Ausgangslage
Die Begriffe «Regelmissachtungen» und «Regelverstösse» umfassen sowohl bewusstes als auch unbewusstes Verhalten von Verkehrsteilnehmenden, das gegen die Vorschriften des Strassenverkehrsrechts verstösst. Zu diesen Regelmissachtungen zählen beispielsweise das Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit ((Link auf Unterseite)), das Fahren unter Einfluss von Alkohol ((Link auf Unterseite)) oder Drogen ((Link auf Unterseite)), die Ablenkung ((Link auf Unterseite)) sowie die Vortrittsmissachtung ((Link auf Unterseite)). Diese Regelmissachtungen zählen zu den häufigsten Unfallursachen und werden daher in diesem Portal auf eigenen Themenseiten behandelt.
Weitere Verstösse im Strassenverkehr sind z. B.:
- Missachten des Rotlichts, eines Signals oder einer Markierung
- Zu nahes Aufschliessen
- Rechts überholen
- Fehlende Zeichengabe (z. B. durch Blinken)
- Fahren in verbotener Richtung (Einbahnstrasse)
Im Folgenden wird der Fokus auf diese Verstösse gelegt.
Es gibt viele Gründe, warum sich Motorradlenkende nicht an die Regeln halten [1]. Eine wichtige Rolle spielt die generelle Einstellung zu Regeln. Besonders problematisch sind bewusste Regelmissachtungen (sog. «violations»): Man will sich nicht an die Regel halten (fehlende Regelakzeptanz) und fürchtet keine Konsequenzen. Regelmissachtungen kommen aber auch trotz grundsätzlicher Regelakzeptanz vor. In diesem Fall handelt es sich entweder um unbewusste Regelmissachtungen (Patzer, Schnitzer, Fehler) oder um opportunistische Regemissachtungen. Bei Letzteren spielt die momentan wahrgenommene Situation eine entscheidende Rolle. Die Gründe für die Regelmissachtung in diesem Fall sind vielfältig und hängen beispielsweise ab von:
- Sozialen Einflüssen im Sinne von Modellverhalten («alle anderen verhalten sich auch so»)
- Konkurrierenden Motiven (z. B. Eile)
- «Gelegenheiten» (z. B. durch fehlenden Überwachungsdruck)
- Dem situativen «Aufforderungscharakter» (z. B. durch die Strassengestaltung)
Verbreitung
Zur Häufigkeit von Regelmissachtungen durch Motorradlenkende liegen in der Schweiz – abgesehen von nicht angepasster Geschwindigkeit, Fahren unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, Ablenkung und Vortrittsmissachtung – nur wenige aktuelle Daten vor.
In der BFU-Bevölkerungsbefragung 2020 wurden Motorradlenkende gefragt, wie häufig sie bestimmte regelwidrige oder der Sicherheit abträgliche Verhaltensweisen zeigen. 46 % der Befragten gaben an, zumindest ab und zu zum vorausfahrenden Fahrzeug sehr nah aufzuschliessen und 18 % gaben an, zumindest ab und zu trotz Gegenverkehr oder an unübersichtlichen Stellen zu überholen [2].
Gefährlichkeit
Regelmissachtungen stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Es gibt jedoch nur wenige Studien, die die Gefährlichkeit von Regelverstössen speziell bei Motorradlenkenden untersucht haben – abgesehen von häufigeren Themen wie Fahren unter Alkoholeinfluss oder Geschwindigkeitsüberschreitungen.
Eine Naturalistic Study der Motorcycle Safety Foundation (MSF) ergab, dass aggressives Fahrverhalten von Motorradlenkenden, einschliesslich der Missachtung von Lichtsignalen, Signalisationen oder zu dichtem Aufschliessen, mit einem 18-mal höheren Unfallrisiko verbunden ist als wenn sie kein solches Verhalten an den Tag legen.
Dabei ist zu beachten, dass in der Kategorie «aggressives Fahren» z. B. auch Vortrittsmissachtungen oder Geschwindigkeitsüberschreitungen enthalten sind. Entsprechend ist davon auszugehen, dass das Risiko bei den hier im Fokus stehenden Regelmissachtungen (vgl. Ausgangslage) möglicherweise etwas geringer ist [3].
Mehr Studien liegen zum Unfallrisiko bei Regelverstössen von Lenkerinnen und Lenkern von Personenwagen vor. Auch wenn das Verletzungsrisiko bei Motorradlenkenden tendenziell höher sein dürfte, kann davon ausgegangen werden, dass vergleichbare Regelmissachtungen bei Motorradlenkenden und Lenkenden von Personenwagen zu einem ähnlichen Risiko führen, in einen Unfall verwickelt zu werden.
In einer Naturalistic Driving Study (NDS) aus den USA wurde das Unfallrisiko für verschiedene Regelverstösse im Vergleich zu einer vorbildlichen Fahrweise abgeschätzt [4].
Beispielsweise wurde für das weit verbreitete Verhalten «Keine Zeichengabe» eine Odds Ratio (s.
Hinweis 1) von 2,5 ermittelt. Das bedeutet, dass das Unfallrisiko bei Nichtbeachtung dieser Regel um den Faktor 2,5 gegenüber einem vorbildlichen Fahrverhalten erhöht ist.
Für folgende Regelverstösse wurden besonders hohe Unfallrisiken (Odds Ratio, Erwartungswert inkl. 95%-Konfidenzintervall in Klammern) ermittelt:
- Plötzliches oder unangemessenes Bremsen, Abbremsen: 247,8 (53,1–1156,2)
- Unvorsichtiges Wenden des Fahrzeugs: 92,1 (68,8–123,4)
- Missachten eines Signals: 28,3 (15,9–50,2)
- Fahren in verbotener Richtung: 22,3 (12,0–41,5)
Unfallrelevanz
Die Unfallrelevanz von Regelmissachtungen bei Motorradlenkenden ist hoch: 21 % aller von Motorradlenkenden verursachten Unfälle mit schweren Personenschäden sind auf Regelmissachtungen zurückzuführen (Ø 2019–2023). Die Verstösse lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen.
Der grösste Anteil entfällt mit 12,5 % auf fehlerhaftes Fahrverhalten. Hierzu zählen insbesondere zu dichtes Auffahren (43 %) sowie vorschriftswidriges Kreuzen in Längsrichtung oder ungenügendes Rechtsfahren (20,5 %).
Fehlverhalten beim Überholen trägt mit 7,9 % zur Gesamtzahl der Verstösse bei, wobei vor allem das Überholen bei Gegenverkehr (31 %) und das Nichtbeibehalten des Platzes in der Kolonne für Motorradfahrende (12,1 %) hervorzuheben sind. Ein grosser Anteil entfällt auf «anderes Fehlverhalten im Zusammenhang mit Überholen» (34 %).
Das Missachten von Lichtsignalen (0,7 %) und die Missachtung von Signalisationen (0,3 %) machen nur einen sehr geringen Anteil aus.
Hinweise
- Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [5].
Quellen
[1] Rössger L, Schade J, Schlag B, Gehlert T. Verkehrsregelakzeptanz und Enforcement. Berlin: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV; 2011. Forschungsbericht GDV VV 06.
[2] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2020: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2020.
[3] Williams V, McLaughlin S, Atwood J. Factors that increase and decrease motorcyclist crash risk. Irvine, CA: Motorcycle Safety Foundation MSF; 2016.
[4] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[5] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.