Ausgangslage
Kinder können sich selbst gefährden, wenn sie im Strassenverkehr unaufmerksam oder abgelenkt unterwegs sind. Sie sind aber auch durch die Unaufmerksamkeit und Ablenkung anderer Verkehrsteilnehmender gefährdet – insbesondere von Motorfahrzeuglenkenden wie z. B. Autofahrenden. Im Folgenden wird der Fokus auf diese Gefährdung gelegt.
Unter Ablenkung wird hier die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Fahraufgabe zu fahrfremden Tätigkeiten, Objekten oder Ereignissen verstanden. Sie wird durch Ablenkungsquellen ausserhalb der Person ausgelöst, z. B. durch das Handy, Musik oder andere Personen. Unaufmerksamkeit umfasst dagegen die innere bzw. selbst erzeugte Ablenkung wie z. B. abschweifende Gedanken oder Tagträume.
Verbreitung
Angaben zur Verbreitung von Ablenkung und Unaufmerksamkeit bei Motorfahrzeuglenkenden liegen nur für einzelne Ablenkungsarten vor. Es existieren keine Daten darüber, wie häufig sie während der Fahrt in Gedanken versunken oder unaufmerksam sind. Dies ist generell schwierig abzuschätzen, da es weder beobachtbar noch zuverlässig erfragbar ist.
Gemäss Beobachtungsstudien der BFU sind gut 25–30 % der Lenkerinnen und Lenker von Personen- und Lieferwagen am Steuer abgelenkt. Die häufigste Ablenkungsart ist die Interaktion mit Mitfahrenden. An zweiter Stelle folgen das Telefonieren (mit oder ohne Freisprechanlage) und die manuelle Bedienung des Handys, z. B. tippen und Display betrachten, mit zusammen ca. 5 % [1].
In der Bevölkerungsbefragung 2023 der BFU gab fast ein Viertel der befragten Autofahrerinnen und Autofahrer an, zumindest selten während der Fahrt mit dem Handy in der Hand zu telefonieren: Knapp 19 % tun dies selten, knapp 4 % gelegentlich und rund 1 % oft. Mit der Freisprechanlage telefonieren 24 % selten, 32 % gelegentlich und 17 % oft [2].
Gefährlichkeit
Unaufmerksamkeit und Ablenkung führen dazu, dass die für eine sichere Verkehrsteilnahme erforderlichen visuellen, auditiven, kognitiven und motorischen Ressourcen nicht in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Wenn Motorfahrzeuglenkende unaufmerksam oder abgelenkt sind, steigt das Risiko, dass sie andere Verkehrsteilnehmende – z. B. Kinder zu Fuss oder auf dem Velo – gefährden, indem sie diese übersehen, in gefährliche Situationen bringen oder nicht rechtzeitig reagieren und Fehlverhalten der Kinder kompensieren können.
Wie häufig Unaufmerksamkeit und Ablenkung anderer Verkehrsteilnehmender tatsächlich zu Kollisionen mit Kindern führen, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Bekannt ist jedoch, dass verschiedene Formen der Ablenkung das Unfallrisiko von Lenkerinnen und Lenkern von Personenwagen (PW) erheblich erhöhen können.
Besonders gefährlich sind Tätigkeiten, die visuelle oder visuell-motorische Ressourcen binden. Dazu gehören u. a. das Tippen auf dem Mobiltelefon (z. B. Nachricht schreiben, Nummer wählen), das Anschauen von fahrirrelevanten Dingen ausserhalb des Fahrzeugs und das Ergreifen oder Weglegen von Gegenständen im Fahrzeug. Diese Tätigkeiten können das Unfallrisiko um den Faktor 4 bis 8 oder sogar mehr erhöhen [3,4]. Diese Angaben beziehen sich auf das allgemeine Unfallrisiko für Lenkende von PW und nicht auf das spezifische Risiko von Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmenden.
Von allen Kindern (0–14 Jahre), die aufgrund von Unaufmerksamkeit und Ablenkung (Hauptursache) durch andere Verkehrsteilnehmende in der Unfallstatistik erfasst wurden, wurden 88 % leicht verletzt, 11 % schwer verletzt und 1,1 % tödlich verletzt (Ø 2019–2023).
Unfallrelevanz
In der offiziellen Verkehrsunfallstatistik werden 6 % aller schweren Personenschäden von Kindern hauptsächlich auf Unaufmerksamkeit und Ablenkung seitens anderer Verkehrsteilnehmender zurückgeführt (Hauptursache, Ø 2019–2023). Betrachtet man nur die Kollisionen, sind es 8 %. Berücksichtigt man auch die Unfälle, bei denen Unaufmerksamkeit und Ablenkung durch andere Verkehrsteilnehmende als Mitursache registriert wurden, sind es deutlich mehr: 20 % aller schweren Unfälle von Kindern und 22 % der schweren Kollisionen werden dadurch mitverursacht.
Die meisten Personen, die durch Unaufmerksamkeit oder Ablenkung eine schwere Kollision mit einem Kind verursachen, sind Motorfahrzeuglenkende, überwiegend PW-Lenkende. Die meisten verunfallten Kinder waren zu Fuss unterwegs. Einige waren aber auch mit einem fahrzeugähnlichen Gerät (z. B. Trottinett), einem Velo, einem Mofa oder als Mitfahrende im Auto unterwegs.
Die detaillierte Analyse der Unaufmerksamkeits- und Ablenkungsarten zeigt, dass in den meisten Fällen die unspezifische Kategorie «Momentane Unaufmerksamkeit» erfasst wird. Ablenkung durch die Bedienung des Telefons oder anderer elektronischer Geräte wird hingegen nur bei 0,4 % der schweren Unfälle von Kindern als (Mit-)Ursache seitens des Kollisionsgegners registriert.
Die Daten aus der Verkehrsunfallstatistik sind jedoch mit Vorsicht zu interpretieren. Unaufmerksamkeit ist als mentaler Zustand schwer feststellbar. Als Hauptursache seitens der Kollisionsgegner von Kindern wird am häufigsten der offensichtliche Regelverstoss «Vortrittsmissachtung» registriert, der aber auch mit Unaufmerksamkeit oder Ablenkung zusammenhängen kann.
Ein gewisses Mass an Unaufmerksamkeit könnte wiederum im Nachhinein wohl den meisten Unfällen als Mitursache zugeschrieben werden. Ablenkung durch Bedienung des Telefons und anderer elektronischer Geräte wird dagegen in der Statistik vermutlich unterschätzt, da sie für die Polizei schwer zu erkennen ist.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Unaufmerksamkeit und Ablenkung durch andere Verkehrsteilnehmende einen nicht zu vernachlässigenden Risikofaktor für Kinder im Strassenverkehr darstellen, dessen tatsächliche Unfallrelevanz aus der Statistik jedoch schwer zu ermitteln ist.
Quellen
[1] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Autolenkerinnen und Autolenker. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.517.01.2023.
[2] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.
[3] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[4] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.