Verkehrsunfälle von Kindern: Ablenkung und Unaufmerksamkeit

Kinder sind leicht ablenkbar. Unter anderem treten Gefahrenbewusstsein und Verkehrsregeln in den Hintergrund und riskantes Verhalten wird wahrscheinlicher.

Ausgangslage

Kinder sind entwicklungsbedingt leicht ablenkbar – auch im Strassenverkehr. Dies führt dazu, dass sie sich nicht immer verkehrssicher verhalten – auch wenn sie eigentlich schon über die grundlegenden Fähigkeiten verfügen würden.

Als Fussgängerinnen und Fussgänger beherrschen bereits 8-jährige Kinder in den meisten Verkehrssituationen die Grundzüge des korrekten Verhaltens – sofern sie es gelernt haben und sich auf das Verkehrsgeschehen konzentrieren [1].

Allerdings sind ihre Aufmerksamkeit und ihre Verhaltenskontrolle leicht störbar. Wenn sie abgelenkt sind und ihre Aufmerksamkeit auf verkehrsfremde Dinge richten, gelingt ihnen auch ein ansonsten gut geübtes, verkehrssicheres Verhalten nicht mehr. Sie können in solchen Momenten den ablenkenden Verhaltensimpuls nur schwer unterdrücken. Die ablenkenden Einflüsse dominieren ihre Wahrnehmung, Kognition und Motorik [1].

Die Ablenkung kann einerseits durch Ablenkungsquellen ausserhalb des Kindes ausgelöst werden, z. B. durch auffällige Dinge oder winkende Freunde auf der anderen Strassenseite. Andererseits kann die Abwendung der Aufmerksamkeit vom Verkehrsgeschehen auch von innen gesteuert sein, d. h., man will die Aufmerksamkeit bestimmten Dingen zuwenden. Dies kann der Fall sein, wenn Kinder das Bedürfnis haben, zu spielen. Bei älteren Kindern kann das Bedürfnis nach sozialem Austausch und Anerkennung dazu führen, dass sie unterwegs in Gespräche vertieft sind oder ihr Mobiltelefon benützen [1].

Verbreitung

Ablenkbarkeit und Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitssteuerung im Strassenverkehr betreffen alle Kinder. Jüngere Kinder sind stärker betroffen als ältere. Allerdings sind die jüngsten Kinder mit den grössten Schwierigkeiten eher wenig unbegleitet im Strassenverkehr unterwegs, weshalb sie nicht unbedingt häufiger verunfallen.

Studien zeigen, dass Kinder bis ca. 6 Jahre generell noch Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, z. B. sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Sie sind stark ablenkbar durch verkehrsirrelevante, aber attraktive Reize.

8- bis 9-Jährige können sich über einen längeren Zeitraum konzentrieren. Sie sind weniger ablenkbar und können ihre Aufmerksamkeit besser steuern und auf verkehrsrelevante Dinge ausrichten. Irrelevante, aber attraktive Reize in der Umgebung können aber immer noch zu Ablenkung führen [1].

Im weiteren Entwicklungsverlauf gelingt es den Kindern immer besser, ihre Aufmerksamkeit den Aufgabenanforderungen entsprechend auszurichten, Prioritäten zu setzen und Irrelevantes auszublenden [2]. Aber auch bei 12- bis 14-Jährigen ist das Ablenkungsrisiko noch gross, z. B. unter dem Einfluss von Gleichaltrigen [1,3].

Die genannten Altersangaben sind nur als grobe Richtwerte zu verstehen. Die interindividuellen Entwicklungsunterschiede sind sehr gross.

Gefährlichkeit

Ablenkung und Unaufmerksamkeit beeinträchtigen verschiedene andere Kompetenzen, die für eine sichere Verkehrsteilnahme wichtig sind, z. B. die visuelle Suche, das Situationsbewusstsein und die Gefahrenantizipation. Auch die Regelbeachtung und die Fähigkeit zur Selbstregulation können beeinträchtigt sein [1]. All dies kann dazu führen, dass Kinder unter Ablenkung ein unerwartetes, gefährliches Verhalten zeigen. Sie rennen beispielsweise plötzlich auf die Strasse, ohne auf den Verkehr zu achten, weil ihnen jemand auf der anderen Strassenseite zuwinkt [3].

Eine ältere Studie zeigt exemplarisch, wie das Gefahrenbewusstsein, die Verkehrsregeln und die Verhaltensanweisungen unter Ablenkung in den Hintergrund treten können. Die beobachteten 6- und 7-jährigen Kinder verhielten sich ohne Ablenkung recht verkehrssicher. 75–80 % hielten am Trottoirrand an und orientierten sich nach beiden Seiten. Abgelenkt taten dies nur noch 29–42 % [4].

Wie häufig Ablenkung und Unaufmerksamkeit bei Kindern letztlich zu einem Unfall führen, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Es hängt auch davon ab, wie gut die anderen Verkehrsteilnehmenden das Fehlverhalten der Kinder antizipieren und kompensieren können.

Unfallrelevanz

Gemäss Schweizer Verkehrsunfallstatistik sind 7 % der schweren Personenschäden von 0- bis 14-jährigen Fussgängerinnen und Fussgängern sowie Fahrzeuglenkerinnen und Fahrzeuglenkern auf eigene Unaufmerksamkeit oder Ablenkung zurückzuführen (Ø 2019–2023).

In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine «momentane Unaufmerksamkeit». Angesichts der hohen Ablenkbarkeit von Kindern erscheint dieser Anteil zu gering. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Unaufmerksamkeit und Ablenkung vor allem bei Fahrzeuglenkenden registriert werden und Kinder häufig zu Fuss unterwegs sind.

In der Statistik finden sich auch andere Hauptursachen, die im Prinzip ebenfalls mit Unaufmerksamkeit oder Ablenkung in Verbindung stehen können. Besonders häufig ist bei Kindern das «Unvorsichtige Überqueren der Fahrbahn». Auch «Springen, Laufen oder Spielen auf der Fahrbahn» wird gelegentlich als Unfallursache registriert. Zählt man auch diese Ursachen zu Unaufmerksamkeit und Ablenkung hinzu, so sind 24 % der schweren Personenschäden bei Kindern darauf zurückzuführen.

Explizit wird die Hauptursache «Unaufmerksamkeit/Ablenkung» vor allem bei Kindern registriert, die als Lenkerin oder Lenker eines Fahrzeugs verunfallt sind: Am häufigsten war dies ein Velo (73 %), gefolgt vom  Mofa (10 %) und einem fahrzeugähnlichen Gerät (6 %). Nur 2 % waren zu Fuss unterwegs.

Bezieht man auch die Hauptursachen «Unvorsichtiges Überqueren der Fahrbahn» und «Springen, Laufen oder Spielen auf der Fahrbahn» mit ein, so dominieren die Unfälle zu Fuss (56 %), gefolgt vom Velo (21%) und fahrzeugähnlichen Geräten (17 %).

Hinweise

Zu beachten ist, dass es in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik bei Velounfällen eine hohe Dunkelziffer gibt, insbesondere bei Alleinunfällen und Unfällen mit leichten Verletzungsfolgen. Dies erschwert verallgemeinerbare Aussagen auf Grundlage dieser Statistik.

Quellen

[1] Schlag B, Richter S, Buchholz K, Gehlert T. Ganzheitliche Verkehrserziehung für Kinder und Jugendliche: Teil 1: Wissenschaftliche Grundlagen. Berlin: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV; 2018. Forschungsbericht GDV Nr. 50.

[2] Uhr A. Entwicklungspsychologische Grundlagen: Überblick und Bedeutung für die Verkehrssicherheit. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2015. bfu-Grundlagen.

[3] Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV. Grundlagen der kindlichen Verkehrspädagogik. Berlin: Unfallforschung der Versicherer UDV; 2018. Unfallforschung kompakt Nr. 79.

[4] Limbourg M, Gerber D. Das Verhalten von 3- bis 7-jährigen Kindern bei der Strassenüberquerung unter Ablenkungsbedingungen. ZVS. 1978; 28(2).

`