Ausgangslage
Gestaltungsmöglichkeiten von Strassenelementen der Verkehrsinfrastruktur, beispielsweise die Signalisation oder Markierung an Kreuzungsbereichen, können im Anspruchsniveau stark variieren. Die Komplexität einer Verkehrssituation entsteht aus einer gemeinsamen Betrachtung von infrastrukturbezogenen Charakteristiken wie beispielsweise dichtem Verkehr, neuen Mobilitätsformen und engen Platzverhältnissen.
Für die Bewältigung des Verkehrsgeschehens beschreibt das Task-Capability Interface-Modell (TCI) von Fuller [1], wie die Differenz zwischen den Anforderungen einer Fahraufgabe und der Kompetenz der Verkehrsteilnehmenden die Schwierigkeit der Aufgabe bestimmt.
Übersteigen die individuellen Fahrkompetenzen die Anforderungen der Verkehrssituation, wird die Fahraufgabe als leicht empfunden. Entsprechen sie den Anforderungen, ist sie anspruchsvoll. Übersteigen die Anforderungen jedoch die Fähigkeiten, kann es zu Fehlern und in der Folge zu Unfällen kommen.
Die Komplexität von Verkehrssituationen ist von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig, z. B.:
- Unklare Linienführung, z. B. nicht erkennbarer Kurvenverlauf
- Hohes Verkehrsaufkommen, z. B. dichter Verkehr in Innenstädten
- Reizüberflutung, z. B. unverständliche Signalisation
- Zu hohe Geschwindigkeiten
- Ausbaustandard, z. B. Beleuchtung
Personenbezogene Aspekte wie altersbedingte Einschränkungen, kognitive Fähigkeiten, zu geringe Kenntnisse der Verkehrsregeln oder die Einschränkung der momentanen Fahrfähigkeit erhöhen das Unfallrisiko bei komplexer Infrastruktur zusätzlich.
Verbreitung
Eine Abschätzung der Verbreitung von (zu) komplexen Infrastruktursituationen setzt eine flächendeckende Inventarisierung von Infrastrukturelementen und deren lokalen Kombinationen voraus. Diese Informationen liegen heute nicht oder nicht vollständig vor. Auch aus der amtlichen Unfallstatistik lässt sich kein flächendeckendes Komplexitätsniveau ableiten. Es fehlt zwar noch der wissenschaftliche Nachweis, aber es ist davon auszugehen, dass aufgrund von zunehmender Dichte und neuen Mobilitätsformen die wahrgenommene Komplexität im Strassenverkehr kontinuierlich zunehmen wird.
Gefährlichkeit
Wie sich die Komplexität der Infrastruktur auf das Unfallgeschehen auswirkt, ist nicht unmittelbar und isoliert aus der amtlichen Unfallstatistik festzustellen. Einzelne Einflussfaktoren finden sich für jede Ortslage oder Unfallstelle. Dabei handelt es sich um lokale Aspekte wie Wetterbedingungen oder Verkehrsdichte. Aber auch unterschiedliche Normen oder Rechtsgrundlagen und darin enthaltene Sicherheitsmassnahmen, beispielsweise bei der baulichen Gestaltung oder dem Temporegime, spielen eine Rolle.
Es gibt derzeit keine Studien, die eine quantitative und verlässliche Aussage über die allgemeine Gefährlichkeit der Komplexität in der Strassenverkehrsinfrastruktur erlauben. Untersuchungen zu einzelnen Infrastrukturkomponenten geben Hinweise darauf, dass die Komplexität einen grossen Einfluss auf das Unfallrisiko hat.
Infrastrukturelle Faktoren und Defizite, die dafür entscheidend sein können, sind im Folgenden für städtische und ländliche Strassenraumgestaltungen aufgelistet [3–5]:
- Unzureichende Abstimmung von Verkehrsregelung, Verkehrsfunktion, Strassenraumgestaltung und Umfeldnutzung
- Unkenntliche Konfliktpunkte und schlechte Erkennbarkeit der Konfliktgegner (v. a. bei Dunkelheit)
- Nicht standardisierte Strassengestaltungselemente und Hinweise für ähnliche Verkehrssituationen
- Vorgesehene Nutzungsflächen der Verkehrsteilnehmergruppen nicht eindeutig erkennbar (z. B. Velostreifen)
- Zu grosse Geschwindigkeitsunterschiede zwischen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden
- Höheres Verkehrsaufkommen: Verkehrsdichte und Verkehrsfluss
- Steigender Anteil an Mischverkehr (verschiedene Verkehrsmittel)
- Ungewohnte Strassenumgebungen wie z. B. lange Baustellenbereiche
- Steigende Anzahl an Spurwechsel- oder Überholmanövern aufgrund mehrspuriger Fahrbahnen
Unfallrelevanz
Eine quantitative Aussage über die Unfallrelevanz aufgrund komplexer Verkehrssituationen lässt sich nicht aus Studien oder dem Unfallgeschehen ableiten. Dennoch ist davon auszugehen: je anspruchsvoller die bauliche und gestalterische Kombination von Infrastrukturelementen, desto grösser auch das Potenzial für Konfliktsituationen und Unfälle.
Grund dafür ist zum einen, dass durch die komplexe Gestaltung der Infrastruktur überhaupt mehr Konfliktpunkte vorherrschen und zum anderen, dass das Anspruchsniveau an Verkehrsteilnehmende, diese Situationen zu bewältigen, ebenfalls ansteigt.
Typisches Kompensationsverhalten wie beispielsweise eine reduzierte Fahrgeschwindigkeit oder das Meiden bestimmter Strecken kann zwar folgenschwere Konflikte mindern; allerdings könnte dies zu einer Beeinträchtigung des Verkehrsflusses und zur Verlagerung der Unfallorte führen.
Hinweise
Es ist zu beachten, dass die persönliche Wahrnehmung von Komplexität der Strassenverkehrsinfrastruktur von der generellen kognitiven Leistungsfähigkeit und vom aktuellen Fahrfähigkeitszustand (z. B. Müdigkeit, Konzentrationsmängel, Bewusstseinseinschränkung durch Alkohol oder Drogen) der einzelnen Person abhängig ist und stark variieren kann.
Quellen
[1] Fuller R. Towards a general theory of driver behaviour. Dublin: Department of Psychology, Trinity College Dublin; 2004.
[2] Vias Institute. Switzerland – ESRA3 Country fact sheet. Brussels: Vias Institute; 2023 Version 2 (01/2024).
[3] Filtness A, Papadimitriou E. Identification of infrastructure related risk factors, Deliverable 5.1 of the H2020 project SafetyCube; 2016.
[4] Renard A, Gloor U, Weber R et al. Forschungspaket SERFOR, TP2: Handlungsbedarf Innerortsstrassen. Bern: Bundesamt für Strassen ASTRA; 2022. Forschungsbericht ASTRA 1738.
[5] Elvik R, Hoye AK, Vaa T, Sorensen MWJ, Hg. The handbook of road safety measures. 2nd ed. Bingley: Emerald Group Publishing Limited; 2009.