Ausgangslage
Ablenkung und Unaufmerksamkeit gehören zu den häufigsten Unfallursachen im Strassenverkehr. Auch Fussgängerinnen und Fussgänger sind abgelenkt unterwegs.
Ablenkung wird durch äussere Reize (z. B. Handy, Musik, andere Personen) ausgelöst, die zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit führen. Unaufmerksamkeit umfasst dagegen die innere bzw. selbst erzeugte Ablenkung, z. B. durch abschweifende Gedanken oder Tagträume.
In den polizeilich registrierten Unfällen werden Unaufmerksamkeit und Ablenkung als unterschiedliche Unfallursachen erfasst. Wissenschaftliche Untersuchungen konzentrieren sich häufig nur auf die Ablenkung.
Besonders relevant sind im Fussverkehr (z. B. [1,2]):
- Die manuelle Bedienung des Handys (z. B. das Schreiben von Textnachrichten)
- Telefonieren (Handy in der Hand oder Freisprechanlage)
- Musik hören (mit Kopfhörer ein-, oder beidseitig)
- Interaktionen mit anderen
- Essen, trinken
In den letzten Jahren haben zahlreiche Studien gezeigt, dass Ablenkungen beim Gehen die Sicherheit von Fussgängerinnen und Fussgängern auf unterschiedliche Weise beeinträchtigt. Die Studien zeigen, dass verschiedene Ablenkungsquellen bei querenden Fussgängerinnen und Fussgängern im Zusammenhang stehen mit:
- Eingeschränkter visueller Aufmerksamkeit und verändertem visuellem Scanverhalten [3–7]
- Häufigerem unsicherem und unvorsichtigem Verhalten (z. B. Ignorieren von Ampeln oder Blick nach links oder rechts) [3,8]
- Längeren Start- bzw. Reaktionszeiten [4,8,9]
- Längeren Überquerungszeiten [3]
Visuelle Ablenkungen (z. B. SMS schreiben) führen zu schwerwiegenderem Fehlverhalten als kognitive Ablenkungen (z. B. Musik hören und Gespräche), da es kritischer ist, den Blick von der Strasse abzuwenden, als sich gedanklich von der Strasse abzuwenden [4,7].
In einer anderen Studie [10] wurde hingegen festgestellt, dass sich Gespräche mit anderen am negativsten auf das Sicherheitsverhalten auswirken.
Fussgängerinnen zeigen im Vergleich zu Fussgängern und ältere Personen im Vergleich zu jüngeren in vielen Studien ein weniger risikoreiches Verhalten beim Überqueren der Strasse [7].
Ablenkung ist häufig auf mangelndes Gefahrenbewusstsein oder mangelnde Selbststeuerungsfähigkeiten zurückzuführen [11].
Verbreitung
Beinahe jede zweite Fussgängerin und jeder zweite Fussgänger ist beim Queren einer Strasse abgelenkt. Die BFU-Erhebung 2023 bestätigt die Ergebnisse der letzten beiden Jahre (vgl. Abbildung 1) [2]. Jüngere Fussgängerinnen und Fussgänger sind häufiger abgelenkt als ältere: Mehr als zwei Drittel der bis 29-Jährigen waren 2022 abgelenkt, bei den über 60-Jährigen war es weniger als ein Drittel.

Abbildung 1: Entwicklung des Anteils abgelenkter Fussgängerinnen und Fussgänger nach Alter, 2020-2023 (95%-Konfidenzintervall).
Die Unterschiede zwischen den Altersklassen sind vor allem auf die häufigste Ablenkungsart, die Interaktion mit anderen, zurückzuführen. Bei den unter 15-Jährigen ist die Interaktionsquote mit fast 60 % überdurchschnittlich hoch. Die 15- bis 29-Jährigen nutzen häufig ihr Handy und tragen Kopfhörer.
29 % der Fussgängerinnen und 26 % der Fussgänger interagieren beim Queren einer Strasse mit einer oder mehreren anderen Personen. Jede zehnte Person trägt beim Queren einen Kopfhörer und jede siebzehnte bedient ein Smartphone. Frauen (49 %) und Männer (46 %) sind etwa gleich häufig abgelenkt. Auch bei den verschiedenen Ablenkungsarten gibt es nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede.
Die Häufigkeit des Telefonierens bzw. der manuellen Bedienung des Handys veränderte sich zwischen den Erhebungen 2020 bis 2023 nur geringfügig und schwankte zwischen 8 % und 10 %. 11 % der 15- bis 29-Jährigen schauen beim Queren einer Strasse auf ihr Handy (auf dem Handy tippen, Display betrachten). Mit zunehmendem Alter nimmt die Handynutzung beim Queren ab. Ab 60 Jahren ist dieses Verhalten nicht mehr oder nur noch vereinzelt zu beobachten. Auch das Telefonieren mit Kopfhörer («Freisprechen») kommt nur vereinzelt vor.
Die Ablenkungsquoten unterscheiden sich nicht zwischen der Art der Querungsstelle (Fussgängerstreifen mit Lichtsignalanlage (LSA), Fussgängerstreifen ohne LSA oder Querungsstelle ohne Markierung).
In der «E-Survey of Road User’s Attitudes» 2023 (ESRA-Befragung) [12] gaben 65 % der Befragten in der Schweiz an, in den letzten 30 Tagen mindestens einmal eine Nachricht gelesen oder auf Social Media zugegriffen zu haben, während sie die Strasse entlanggingen. Knapp die Hälfte der Befragten (48 %) hat mindestens einmal Musik gehört. Im Gegensatz zur BFU-Erhebung, die auf beobachtetem Verhalten beruht, handelt es sich bei ESRA um subjektive Einschätzungen der Fussgängerinnen und Fussgänger.
Gefährlichkeit
Die Forschung hat sich bisher vor allem mit der Ablenkung von Fussgängerinnen und Fussgängern, insbesondere durch Mobiltelefone, befasst. Nur wenige Studien haben untersucht, wie häufig Ablenkung im Fussverkehr tatsächlich zu Unfällen führt.
Eine Metaanalyse zur Nutzung von Mobiltelefonen beim Überqueren von Strassen [13] zeigte, dass das Telefonieren mit dem Handy mit einer leicht erhöhten Rate von Kollisionen und Beinahe-Kollisionen von Fussgängerinnen und Fussgängern mit einem Fahrzeug und das Schreiben von SMS oder das Surfen im Internet mit einer mässig erhöhten Rate von (Beinahe-)Kollisionen verbunden war. Das Hören von Musik hatte keinen statistisch signifikanten oder verallgemeinerbaren Effekt auf (Beinahe-)Kollisionen.
In einer Studie, in der das Unfallgeschehen über einen Zeitraum von 10 Jahren analysiert und relevante Unfallmuster identifiziert wurden, zeigte sich, dass abgelenkte Fussgängerinnen und Fussgänger, die in Wohngebieten elektronische Geräte benützten, ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für mittelschwere Verletzungen hatten. Ein ähnliches Verhalten beim Gehen wurde auch in städtischen Gebieten beobachtet, mit identischen Folgen [14].
Es wird vermutet, dass Kinder und Jugendliche aufgrund der Ablenkung durch die zunehmende Nutzung von Mobiltelefonen bei gleichzeitig geringerer Erfahrung im Strassenverkehr möglicherweise einem höheren Risiko ausgesetzt sind [11].
Aus den polizeilich registrierten Unfällen in der Schweiz geht hervor, dass «unvorsichtiges Überqueren der Strasse» die häufigste Unfallursache bei selbstverschuldeten Fussgängerunfällen ist. Dies ist möglicherweise auf Ablenkung zurückzuführen.
Unfallrelevanz
Insgesamt wird bei lediglich 1,5 % aller schweren Personenschäden von Fussgängerinnen und Fussgängern deren Ablenkung oder Unaufmerksamkeit als (Mit-)Ursache des Unfalls registriert (Ø 2019–2023). Danach werden nur noch selten zusätzliche Ursachen mitaufgenommen (wie z. B. Ablenkung oder Unaufmerksamkeit als mögliche Mitursache der Vortrittsmissachtung).
In der Polizeistatistik dürfte die die (Mit-)Ursache Ablenkung oder Unaufmerksamkeit bei schweren Fussgängerunfällen allerdings unterschätzt werden. Zum einen, weil bei schweren Fussgängerunfällen neben der Hauptursache eher selten weitere (Mit-)Ursachen erfasst werden, zum anderen, weil davon auszugehen ist, dass ein (Mit-)Verschulden durch Ablenkung (z. B. durch ein Mobiltelefon) nur ungern zugegeben wird.
In knapp ¾ dieser Fälle handelt es sich um eine «momentane Unaufmerksamkeit». Deutlich seltener wird die Ablenkung durch die Bedienung des Telefons sowie durch elektronische Geräte als (Mit-)Ursache des Unfalls registriert (10 %).
Sind Fussgängerinnen und Fussgänger Hauptverursachende ihres Unfalls, so wird dies in 3 % der Fälle auf Ablenkung oder Unaufmerksamkeit zurückgeführt. Dabei handelt es sich zu gleichen Teilen um Alleinunfälle und Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmenden.
Quellen
[1] Simmons SM, Caird JK, Ta A et al. Supplemental material-Plight of the distracted pedestrian: A research synthesis and meta-analysis of mobile phone use on crossing behaviour. Inj Prev. 2020; 26(2): 170–176. DOI:10.1136/injuryprev-2019-043426.
[2] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Fussgängerinnen und Fussgänger. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.516.01.2023.
[3] Thompson LL, Rivara FP, Ayyagari RC, Ebel BE. Impact of social and technological distraction on pedestrian crossing behaviour: an observational study. Injury Prevention. 2013; 19(4): 232–237. DOI:10.1136/injuryprev-2012-040601.
[4] Jiang K, Ling F, Feng Z et al. Effects of mobile phone distraction on pedestrians’ crossing behavior and visual attention allocation at a signalized intersection: An outdoor experimental study. Accid Anal Prev. 2018; 115: 170–177. DOI:10.1016/j.aap.2018.03.019.
[5] Basch CH, Ethan D, Rajan S, Basch CE. Technology-related distracted walking behaviours in Manhattan's most dangerous intersections. Injury Prevention. 2014; 20(5): 343–346. DOI:10.1136/injuryprev-2013-041063.
[6] Schwebel DC, Stavrinos D, Byington KW et al. Distraction and pedestrian safety: how talking on the phone, texting, and listening to music impact crossing the street. Accid Anal Prev. 2012; 45(2): 266–271. DOI:10.1016/j.aap.2011.07.011.
[7] Yadav AK, Velaga NR. A systematic review of observational studies investigating the influence of mobile phone distraction on road crossing behaviour of pedestrians. Transp Res Part F Traffic Psychol Behav. 2022; 91: 236–259. DOI:10.1016/j.trf.2022.10.008.
[8] Gillette G, Fitzpatrick K, Chrysler S, Avelar R. Effect of Distractions on a Pedestrian’s Waiting Behavior at Traffic Signals: Observational Study. Transp Res Rec. 2016; 2586(1): 111–119. DOI:10.3141/2586-13.
[9] Liu Y, Alsaleh R, Sayed T. Modeling the influence of mobile phone use distraction on pedestrian reaction times to green signals: A multilevel mixed-effects parametric survival model. Transp Res Part F Traffic Psychol Behav. 2021; 81: 115–129. DOI:10.1016/j.trf.2021.05.020.
[10] O’Dell A, Morris A, Filtness A, Barnes J. The Impact of Pedestrian Distraction on Safety Behaviours at Controlled and Uncontrolled Crossings. Future Transportation. 2023; 3(4): 1195–1208. DOI:10.3390/futuretransp3040065.
[11] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.
[12] Vias Institute. Switzerland – ESRA3 Country Fact Sheet. ESRA3 survey (E-Survey of Road Users’ Attitudes). Version 2 (01/2024): Vias Institute; 2023.
[13] Simmons SM, Caird JK, Ta A et al. Plight of the distracted pedestrian: a research synthesis and meta-analysis of mobile phone use on crossing behaviour. Injury Prevention. 2020; 26(2): 170–176. DOI:10.1136/injuryprev-2019-043426.
[14] Hossain MM, Zhou H, Sun X et al. Crashes involving distracted pedestrians: Identifying risk factors and their relationships to pedestrian severity levels and distraction modes. Accid Anal Prev. 2024; 194: 107359. DOI:10.1016/j.aap.2023.107359.