Ausgangslage
Ablenkung und Unaufmerksamkeit gehören zu den häufigsten Unfallursachen im Strassenverkehr. Dies gilt auch für E-Bike-Unfälle. Unter Ablenkung wird im Folgenden die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Fahraufgabe zu fahrfremden Tätigkeiten, Objekten oder Ereignissen verstanden. Sie wird durch Ablenkungsquellen ausserhalb der Person ausgelöst, zum Beispiel durch das Handy, Musik oder andere Personen. Unaufmerksamkeit umfasst dagegen die innere bzw. selbst erzeugte Ablenkung wie z. B. abschweifende Gedanken oder Tagträume.
Verbreitung
Angaben zur Verbreitung von Ablenkung und Unaufmerksamkeit bei E-Bike-Fahrenden liegen nur für einzelne Arten der Ablenkung vor. Es existieren keine Daten darüber, wie häufig E-Bikerinnen und E-Biker während der Fahrt in Gedanken versunken oder unaufmerksam sind. Dies ist generell schwierig abzuschätzen, da es weder beobachtbar noch zuverlässig erfragbar ist.
Gemäss einer Beobachtungsstudie der BFU sind rund 15 % der E-Bike-Fahrenden in der Schweiz während der Fahrt abgelenkt [1]. Zwischen den beiden E-Bike-Typen gibt es tendenzielle, aber statistisch nicht signifikante Unterschiede: Bei langsamen E-Bikes waren 16 % der Lenkenden abgelenkt, bei schnellen E-Bikes 11 %.
Die häufigsten Ablenkungsarten waren das Tragen von Kopfhörern (je 7 %) und die Interaktion mit anderen Personen. Letzteres wurde bei 7 % der Lenkenden langsamer E-Bikes und bei 3 % der Lenkenden schneller E-Bikes beobachtet. Handybenützung zum Telefonieren, Lesen oder Schreiben ist mit rund 1 % deutlich seltener und wurde nur auf langsamen E-Bikes beobachtet [1].
Die Beobachtungsstudie zeigte zudem, dass die Ablenkungsquote auf dem klassischen Velo tendenziell, aber wiederum nicht statistisch signifikant höher ist als auf dem E-Bike und dass sie mit zunehmendem Alter der Velo- und E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer abnimmt [1].
Gefährlichkeit
Die Forschung hat sich bisher vor allem mit der Ablenkung beim Velofahren befasst – insbesondere durch Handys. Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse auch beim E-Bike-Fahren gelten, wobei hier aufgrund der höheren Geschwindigkeiten ablenkende Tätigkeiten noch gefährlicher sind als beim Velofahren [2].
Experimentelle und Beobachtungsstudien zeigen, dass die Handynutzung beim Velofahren je nach Art der Nutzung zu verschiedenen sicherheitsrelevanten Beeinträchtigungen führen kann oder damit assoziiert ist, zum Beispiel [3]:
Fahrverhalten
Die manuelle Bedienung des Telefons beeinträchtigt die Querführung (z. B. kurviges und wackeliges Fahren).
Visuelle Wahrnehmung
Beim Schreiben von Nachrichten sind die visuelle Wahrnehmung und das periphere Sehen eingeschränkt. Dies wirkt sich negativ auf das Situationsbewusstsein aus.
Auditive Wahrnehmung
Telefonieren beeinträchtigt die auditive Wahrnehmung, z. B. von relevanten Umgebungsgeräuschen (z. B. Motorengeräusche).
Riskantes Verhalten
In Beobachtungsstudien zeigten Velofahrerinnen und Velofahrer, die ein Handy nutzten oder Musik hörten, im Vergleich zu nicht abgelenkten Velofahrenden häufiger regelwidriges oder riskantes Verhalten, z. B. unvorsichtiges Verhalten an Kreuzungen, Fahren in falscher Richtung oder bei Rot.
Bezüglich Musikhören wurde kein Einfluss auf die Querführung oder die visuelle Wahrnehmung nachgewiesen. Beeinträchtigungen finden sich jedoch bei der auditiven Wahrnehmung von Umgebungsgeräuschen, zumindest wenn beidseitige Kopfhörer verwendet werden [3].
Inwieweit die Handynutzung oder das Hören von Musik während der Velo- oder E-Bike-Fahrt das Unfallrisiko tatsächlich erhöhen, kann noch nicht abschliessend beurteilt werden. Dies liegt u. a. daran, dass experimentelle Studien nur eine begrenzte Realitätsnähe haben und Beobachtungsstudien i. d. R. keine Kausalität nachweisen können.
Velofahrende berichten, dass sie die Handynutzung während der Fahrt kompensieren, indem sie z. B. Telefongespräche kurz halten und dem Verkehr durch häufigeres Umherschauen mehr Aufmerksamkeit schenken. Letzteres konnte in Beobachtungsstudien jedoch nicht bestätigt werden. Hingegen wurde beobachtet, dass Velofahrende während des Handygebrauchs die Geschwindigkeit reduzieren [3].
Auch wenn eine abschliessende Beurteilung noch fehlt, ist aufgrund der vorliegenden Informationen von einem erhöhten Risiko für Velo- und E-Bike-Fahrten unter Ablenkung auszugehen [3]. Zudem ist anzunehmen, dass insbesondere jene Tätigkeiten riskant sind, bei denen der Blick von der Strasse abgewendet wird und die zusätzlich motorische Ressourcen beanspruchen (visuell-manuelle Ablenkung, z. B. Schreiben einer Nachricht auf dem Handy) [4].
Zur Gefährlichkeit von Unaufmerksamkeit auf dem Velo oder E-Bike scheint es keine Studien zu geben. Es ist aber davon auszugehen, dass auch hier ein negativer Einfluss auf die Verkehrssicherheit besteht. Die Gefährlichkeit dürfte jedoch geringer sein als bei Ablenkungsarten, die visuelle und manuelle Ressourcen beanspruchen.
Unfallrelevanz
Ablenkung und Unaufmerksamkeit gehören laut offizieller Verkehrsunfallstatistik zu den häufigsten Ursachen von schweren E-Bike-Unfällen. Insgesamt wird bei 20 % aller schweren Personenschäden bei E-Bike-Fahrenden deren Ablenkung oder Unaufmerksamkeit als (Mit-)Ursache des Unfalls registriert (Ø 2019–2023).
In drei Vierteln dieser Fälle handelt es sich um eine «momentane Unaufmerksamkeit». Die Ablenkung durch Bedienung des Telefons oder durch elektronische Geräte wird fast nie als (Mit-)Ursache des Unfalls registriert (0,2 %).
Sind die E-Bike-Fahrenden Hauptverursachende ihres Unfalls, so wird dieser in 18 % der Fälle auf Ablenkung oder Unaufmerksamkeit zurückgeführt. Bei 87 % dieser Unfälle handelt es sich um Alleinunfälle.
Zwischen Lenkerinnen und Lenkern schneller und langsamer E-Bikes gibt es keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Registrierungshäufigkeit der (Mit-)Ursache Ablenkung und Unaufmerksamkeit. Auch zwischen den Geschlechtern gibt es keinen Unterschied.
Auch Forschungsarbeiten zum Thema Alleinunfälle bei E-Bike-Fahrenden zeigen die hohe Unfallrelevanz von Ablenkung und Unaufmerksamkeit: In einer Befragung in der Schweiz gaben 18 % der Befragten an, bei ihrem Alleinunfall habe eine Rolle gespielt, dass sie «auf etwas anderes im Verkehr konzentriert waren».
Für 16 % spielte es eine Rolle, dass sie «nicht auf den Verkehr konzentriert waren». 3 % sahen als (Mit-)Ursache, dass sie mit etwas anderem beschäftigt waren und 1 %, dass sie Musik gehört hatten [5]. Eine Sekundäranalyse der GIDAS-Daten (German In-Depth Accident Study) zu Alleinunfällen von Lenkenden langsamer E-Bikes in Deutschland ergab, dass bei 24 % dieser Unfälle Ablenkung durch andere Verkehrsteilnehmende eine (Mit-)Ursache war [6].
Hinweise
Die Erkenntnisse im Unterkapitel «Gefährlichkeit» stammen aus der Literaturarbeit von Hertach (2017) [3]. Die Originalquellen der erwähnten Befunde können dieser Literaturarbeit entnommen werden.
Zu beachten ist, dass es in der offiziellen Verkehrsunfallstatistik bei E-Bike-Unfällen eine hohe Dunkelziffer gibt, insbesondere bei Alleinunfällen und Unfällen mit leichten Verletzungsfolgen. Dies erschwert verallgemeinerbare Aussagen auf Grundlage dieser Statistik.
Quellen
[1] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Velo- und E-Bike-Fahrende. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.518.01.2023
[2] Huertas-Leyva P, Dozza M, Baldanzini N. Investigating cycling kinematics and braking maneuvers in the real world: E-bikes make cyclists move faster, brake harder, and experience new conflicts. Transp Res Part F Traffic Psychol Behav. 2018; 54: 211–222. DOI:10.1016/j.trf.2018.02.008.
[3] Hertach P. Kurzanalyse Gefahren durch die Handynutzung im Langsamverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2017. BFU-Faktenblatt Nr. 19. DOI:10.13100/bfu.2.289.01.
[4] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.
[5] Uhr A, Hertach P. Verkehrssicherheit von E-Bikes mit Schwerpunkt Alleinunfälle. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2017. BFU-Report 75. DOI:10.13100/bfu.2.340.01.
[6] Panwinkler T, Holz-Rau C. Causes of pedelec (pedal electric cycle) single accidents and their influence on injury severity. Accid Anal Prev. 2021; 154: 106082. DOI:10.1016/j.aap.2021.106082.