Ausgangslage
Überhöhte oder unangepasste Geschwindigkeit ist ein zentraler Risikofaktor für Unfälle und Verletzungen im Schweizer Strassenverkehr (z. B. [1–4]). Sowohl die Unfallwahrscheinlichkeit als auch die Verletzungsschwere nehmen mit steigender Geschwindigkeit zu [2,3,5,6].
Lenkerinnen und Lenker, die mit hoher Geschwindigkeit fahren, haben weniger Zeit, auf ein unerwartetes Ereignis zu reagieren, als wenn sie mit mässiger Geschwindigkeit fahren. Obwohl die Reaktionszeit gleich bleibt, ist die zurückgelegte Strecke bei hoher Geschwindigkeit länger. Zudem verlängert sich der Bremsweg, da er im Quadrat zur Geschwindigkeit steht. Auch andere Verkehrsteilnehmende haben weniger Zeit, auf ein schnell herannahendes Fahrzeug zu reagieren [3].
Überhöhte Geschwindigkeit, also die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, ist objektiv messbar. Unangepasste Geschwindigkeit hingegen bedeutet, dass die Geschwindigkeit nicht den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepasst ist. Diese Einschätzung gilt als subjektiv, da nicht immer genau bestimmt werden kann, welche Geschwindigkeit unter den gegebenen Umständen angemessen ist [3]. Studien zum Anteil der zu schnell fahrenden Fahrzeuglenkenden beziehen sich in der Regel auf das erstgenannte Geschwindigkeitsverhalten.
Verbreitung
Gemäss einer im Jahr 2020 veröffentlichten Studie der BFU fahren relativ viele Fahrzeuge schneller als gesetzlich erlaubt. Die Geschwindigkeitsmessungen von über 16 Mio. Fahrzeugen nach Fahrzeugart, Geschwindigkeitsregime und Ortslage zeigen, dass 31 % der Fahrzeuge die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht einhalten [4,7].
Am meisten Fahrzeuglenkende halten die Geschwindigkeit bei Tempo 80 ein (85 %), am wenigsten innerorts bei Tempo 30 (46 %). Bei Tempo 50 sind es 64 % und bei Tempo 120 66 %.
Bei Tempo 30 halten mit 35 % die Motorradfahrenden das Tempolimit am wenigsten gut ein. Bei Tempo 80 halten mit 87 % die schweren Motorwagen (Lastwagen, Sattelschlepper, Reisecars) das Tempolimit am besten ein [4]. Es ist davon auszugehen, dass bei vielen schweren Motorwagen technische Einrichtungen wie der Fahrtenschreiber die Einhaltung der Geschwindigkeit begünstigen [4].
Die mittleren gefahrenen Geschwindigkeiten liegen bei Tempo 50 (47,6 km/h), Tempo 80 (70,3 km/h) und Tempo 120 (110,4 km/h) unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Eine Ausnahme bilden die Tempo-30-Regimes mit einer mittleren Geschwindigkeit von 31,6 km/h [4].
Weitere Auswertungen zeigen, dass in den Nachtstunden die gefahrenen Geschwindigkeiten ansteigen und Lenkerinnen und Lenker die Tempolimits seltener einhalten. Auch tagsüber an Wochenenden fahren Fahrzeuglenkende häufiger zu schnell [4].
Es ist darauf hinzuweisen, dass sich der weitaus grösste Teil der in diesem Projekt erhobenen Daten auf Lenkende ab 18 Jahren bezieht. Angesichts der grossen Spannweite der hier interessierenden Altersgruppe von 25 bis 64 Jahren kann davon ausgegangen werden, dass die oben genannten Werte nicht wesentlich von den Werten abweichen, die speziell für diese Altersgruppe gelten.
Gefährlichkeit
Das Gefahrenpotenzial von unangepasster Geschwindigkeit wird als sehr hoch eingeschätzt [8]. Steigt die Durchschnittsgeschwindigkeit auf einer Strasse, nimmt die Zahl der Unfälle zu, wobei die schweren Unfälle stärker zunehmen als die leichten.
Dieses Phänomen lässt sich durch physikalische Gesetzmässigkeiten erklären, die durch zahlreiche empirische Studien weltweit bestätigt wurden [6]. Der Zusammenhang zwischen Änderungen der Durchschnittsgeschwindigkeit und der Unfallhäufigkeit hängt von der Ausgangsgeschwindigkeit ab. Eine prozentuale Geschwindigkeitsänderung wirkt sich bei höheren Ausgangsgeschwindigkeiten stärker aus. Dieser Zusammenhang lässt sich am besten mit einem Exponentialmodell darstellen [6].
Für die Sicherheit von vulnerablen Verkehrsteilnehmenden (z. B. Fussgängerinnen und Fussgänger) ist die Fahrgeschwindigkeit besonders kritisch: Ihre Sicherheit hängt massgeblich von der Kollisionsgeschwindigkeit ab [9]. Gemäss einer Metaanalyse ist die Wahrscheinlichkeit, dass Fussgängerinnen und Fussgänger bei einer Kollision mit einem 50 km/h schnellen Fahrzeug getötet werden, sechsmal höher als bei einer Kollision mit einem 30 km/h schnellen Fahrzeug [10].
Hinweise
In den Jahren 2019 bis 2023 wurde bei rund einem Fünftel aller schweren Unfälle nicht angepasste oder überhöhte Geschwindigkeit als Haupt- oder Mitursache registriert. Dies gilt auch für die Altersgruppe der 25- bis 64-Jährigen [11]. Der Anteil der Geschwindigkeitsunfälle an allen schweren Unfällen ist bei den 18- bis 24-jährigen Männern mit 21 % etwas höher als bei den gleichaltrigen Frauen (17 %).
Der Anteil der 25- bis 64-Jährigen, die bei schweren Geschwindigkeitsunfällen schwer verletzt oder getötet werden (58 %), entspricht ihrem Anteil an allen schweren Unfällen (58 %). Bei den Hauptverursacherinnen und Hauptverursachern schwerer Geschwindigkeitsunfälle liegt ihr Anteil mit 59 % gleich hoch.
Quellen
[1] Hertach P. Geschwindigkeitskontrollen: Empfehlungen aus Präventionssicht. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2021. Forschung 2.401. DOI:10.13100/BFU.2.401.01.2021.
[2] WHO. Managing speed. Geneva, Switzerland: WHO; 2017.
[3] Van den Berghe W, Pelssers B. Dossier thématique Sécurité routière no 9: Vitesse et vitesse excessive. Bruxelles: Institut VIAS – Centre de connaissance Sécurité routière; 2020.
[4] Niemann S. Geschwindigkeit auf Schweizer Strassen: Pilotprojekt zur Erhebung des Geschwindigkeitsverhaltens von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Forschung 2.378. DOI:10.13100/BFU.2.378.01.2020.
[5] Adminaité-Fodor D, Jost G. Reducing speeding in Europe. Brussels: European Transport Safety Council ETSC; 2019. PIN Flash Report 36.
[6] International Transport Forum ITF. Speed and crash risk: Research report. Paris: ITF; 2018.
[7] Niemann S. Geschwindigkeiten auf Schweizer Strassen. VSS Strasse und Verkehr. 2021; 107(12): 32–38.
[8] Walter E, Achermann Stürmer Y, Ewert U et al. Personenwagen-Lenkende und -Mitfahrende. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2015. Sicherheitsdossier Nr. 13.
[9] Ewert U, Scaramuzza G, Niemann S, Walter E. Der Faktor Geschwindigkeit im motorisierten Strassenverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2010. Sicherheitsdossier Nr. 06.
[10] [10] Hussain Q, Feng H, Grzebieta R et al. The relationship between impact speed and the probability of pedestrian fatality during a vehicle-pedestrian crash: A systematic review and meta-analysis. Accid Anal Prev. 2019; 129: 241–249. DOI:10.1016/j.aap.2019.05.033.
[11] Hertach P, Uhr A, Achermann Stürmer Y et al. Sinus 2024: Sicherheitsniveau und Unfallgeschehen im Strassenverkehr 2023. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2024. DOI:10.13100/bfu.2.536.01.2024.