Einleitung
Die herkömmliche Verkehrssicherheitsarbeit setzt darauf, dass sich die Menschen an das Verkehrssystem anpassen. Da jedoch menschliche Fehler unvermeidlich sind, entstand ein neuer Ansatz: der «Safe System Approach».
Die Grundidee dieses Konzepts ist der Umkehrschluss: eine Anpassung des Verkehrssystems an die Leistungsmöglichkeiten des Menschen. Dadurch sollen mehr schwere Unfälle verhindert werden. Neben sicheren Fahrzeugen und verantwortungsbewusstem Verhalten spielt die sicherheitsdienliche Strasseninfrastruktur dabei eine zentrale Rolle.
Eine wichtige Ableitung des Safe System Approach ist das Konzept der selbsterklärenden und fehlerverzeihenden Strassenraumgestaltung (SERFOR = self explaining roads and forgiving roads):
- Self Explaining Roads: Strassenräume sind so gestaltet, dass ihr Erscheinungsbild das richtige Verhalten fördert (z. B. angemessene Geschwindigkeit).
- Forgiving Roads: die Strassenraumgestaltung minimiert Unfallfolgen, indem sie Fehler verzeiht (z. B. Unterfahrschutz für Motorradfahrende).
Dieser Ansatz wurde für die Schweiz angepasst und weiterentwickelt [1].
Aktuelle Situation
Mit der Verabschiedung des Handlungsprogramms Via sicura hat sich der Bund zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit bekannt [2]. Konkret schlägt sich dies insbesondere im Schweizerischen Strassenverkehrsgesetz (SVG, Art. 6a) nieder [3].
Demnach sind alle Strasseneigentümer verpflichtet, eine sicherheitstechnisch optimale Infrastruktur bereitzustellen und zu betreiben. Im Rahmen von Forschungsprojekten wurden übergeordnete Handlungsempfehlungen und Designregeln entwickelt, um den Anliegen der Sicherheit bei Planung, Bau, Unterhalt und Betrieb der Strasseninfrastruktur angemessen Rechnung zu tragen.
Die Ergebnisse sollen die Prägnanz und Eindeutigkeit der Gestaltungselemente, die Erhöhung der Aufmerksamkeit für Konfliktpunkte und -gegner, die Reduzierung von Geschwindigkeiten sowie die Erhöhung der Akzeptanz für Verkehrsregeln adressieren [4–6]. Auf Initiative des Bundesamts für Strassen ASTRA wurden zudem Infrastruktur-Sicherheitsinstrumente (ISSI) entwickelt und normativ festgehalten [7].
Präventionsnutzen
Der Präventionsnutzen unterschiedlicher Massnahmen wurde auch anhand umfassender Metaanalysen von Elvik et al. [8] nachgewiesen. Die Übertragbarkeit dieser Erkenntnisse auf den Schweizer Verkehrskontext ist allerdings nicht garantiert.
Das Schweizer VeSPA-Projekt (Verkehrssicherheitspotenzial-Analyse) zielte unter anderem darauf ab, Massnahmen zu identifizieren, die das Potenzial haben, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Dabei wurde die Wirksamkeit einzelner Massnahmen auf das Unfallgeschehen von Motorradfahrenden abgeschätzt [4]. Im Sonderprogramm zu Sicherheitsmassnahmen für Motorräder auf Strecken wurde eine Wirksamkeit von bis zu 30 % abgeschätzt, für die Massnahmengruppe zur Verbesserung der Gestaltung von Knoten von 10 %.
Die Ergebnisse der schweizerischen Massnahmenevaluation Verkehrsinfrastruktur (MEVASI) zeigen einen positiven Einfluss der Strassenraumgestaltung auf die Verkehrssicherheit in der Schweiz. Zu den Top-Massnahmen gehören beispielsweise die Demarkierung der Mittellinie, Kreisverkehrsplätze, Velostreifen und Leitpfeile in Kurven. Die unfallreduzierenden Effekte für die einzelnen Massnahmengruppen reichen von 11 % bis 66 % aller registrierten Unfälle [9].
In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden verschiedene Studien zur Wirksamkeit von Fahrbahnmarkierungen in Kurven mit besonderem Fokus auf Motorradfahrende durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigten, dass spezielle Markierungen in Ausserortskurven das Fahrverhalten positiv beeinflussen. Insbesondere fördern sie die Wahl einer sicheren Fahrlinie, wodurch das Risiko eines Abkommens in den Gegenverkehr – vor allem an unübersichtlichen Kurvenstellen – verringert werden kann. Trotz eines erkennbaren rückläufigen Trends im Unfallgeschehen nach der Einführung solcher Sondermarkierungen lässt sich ein kausaler Zusammenhang aufgrund der insgesamt geringen Fallzahlen bislang statistisch nicht nachweisen [10–12].
Optimierungspotential
In einer konsequenten Berücksichtigung von SERFOR und einer flächendeckenden Anwendung der Sicherheitsinstrumente ISSI liegt ein enormes Potenzial, um über die Gestaltung des Strassenraums zusätzliche Sicherheitseffekte in der Schweiz zu erreichen.
Die Sicherheit an Knoten für Motorradfahrende sollte aus gestalterischen Aspekten insbesondere durch Verbesserungen der Sichtweiten, Vermeidung von Rechtsabbiegestreifen ohne Lichtsignalanlagen und die Sensibilisierung anderer Verkehrsteilnehmender in Bezug auf die Wahrnehmung von Motorradfahrenden (schmale Silhouette) erzielt werden [4].
Die Sicherheitsrelevanz auf Streckenabschnitten – insbesondere ausserorts – hängt vor allem von gestalterischen Aspekten der Fahrbahn und des Seitenraums ab. Einen massgeblichen Einfluss auf die Sicherheit von Motorradfahrenden hat der Zustand der Fahrbahn, wobei insbesondere plötzliche Griffigkeitswechsel, Längsfugen, ungünstige Querneigungswechsel, rutschige Kanaldeckel und unbefestigte Bankette als besonders kritisch gelten und saniert werden sollten.
Flächige Markierungen sind aufgrund ihrer potenziell griffigkeitsmindernden Wirkung möglichst zu vermeiden, während gezielte Signalisationsmassnahmen wie durchgezogene oder verbreiterte Mittellinien sowie Kreismarkierungen zur sicheren Spurführung beitragen können. Darüber hinaus ist eine sorgfältige Trassierung mit angepasster Radienfolge und Linienführung erforderlich, insbesondere wenn kritische Bereiche wie Kuppen in Kurven oder Knotenpunkte das Unfallrisiko deutlich erhöhen.
Bei der Gestaltung des Seitenraums sollte ein deutlich grösserer Sicherheitsabstand als die Mindestanforderung von 4–5 m berücksichtigt werden, da selbst Hindernisse in 9–10 m Entfernung noch ein erhebliches Risiko für Motorradfahrende darstellen können. Ist eine vollständige Hindernisfreiheit nicht umsetzbar, sind Rückhaltesysteme mit Unterfahrschutz erforderlich, wobei alternativ bei hoher unfallbezogener Belastung auch Erdwälle als wirksame Schutzmassnahme in Betracht gezogen werden können[4].
Fazit
In einer konsequenten Umsetzung des Konzepts der selbsterklärenden und fehlerverzeihenden Strassenraumgestaltung kann die Verkehrssicherheit in der Schweiz noch deutlich verbessert werden. Der grundlegende Ansatz ist dabei, dass das Strassensystem an die menschlichen Fähigkeiten und Leistungsgrenzen angepasst wird. Unfälle können so möglichst verhindert oder deren Folgen gemindert werden. Im Grundsatz gilt: Sicherheitsfördernde Gestaltungen der Fahrbahnen und des Seitenraums in Kombination mit guten Sichtbeziehungen fördern die Sicherheit von Motorradfahrenden.
Die praktische Sicherheitsarbeit in der Schweiz braucht eine umfassende Anpassung bestehender Normen, eine konsequente Berücksichtigung der Bedürfnisse von Motorradfahrenden sowie der Berücksichtigung von Humanfaktoren in der Infrastrukturplanung. Um langfristig eine sichere Strasseninfrastruktur zu gewährleisten, sind verstärkte Schulungen für Fachkräfte, angepasste und eng koordinierte Planungsprozesse sowie eine stärkere politische Unterstützung notwendig.
Quellen
[1] Scaramuzza G, Degener S, Allenbach R. SERFOR: Voranalyse «Self Explaining and Forgiving Roads». Bern: Bundesamt für Strassen ASTRA; 2016. Forschungsbericht ASTRA 1550.
[2] Bundesamt für Strassen ASTRA. Via sicura: Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr. Bern; 2005.
[3] Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG; SR 741.01).
[4] Schüller H, Fehren-Schmitz K, Rühle A et al. Massnahmen und Potenziale im Bereich Infrastruktur: Forschungspaket VeSPA, Teilprojekt 2-M. Ittigen: Bundesamt für Strassen ASTRA; 2016. Forschungsbericht ASTRA 1598.
[5] Willi C, Hafsteinsson H, Zahnd B et al. Forschungspaket SERFOR, Teilprojekt TP3: Handlungsbedarf Ausserortsstrassen. Bern: Bundesamt für Strassen ASTRA; 2022. Forschungsbericht ASTRA.
[6] Renard A, Gloor U, Weber R et al. Forschungspaket SERFOR, TP2: Handlungsbedarf Innerortsstrassen. Bern: Bundesamt für Strassen ASTRA; 2022. Forschungsbericht ASTRA 1738.
[7] Bundesamt für Strassen ASTRA. ISSI – Infrastruktur-Sicherheitsinstrumente: Vollzugshilfe. Bern: ASTRA; 2013.
[8] Elvik R, Hoye AK, Vaa T, Sorensen MWJ, Hg. The handbook of road safety measures. 2nd ed. Bingley: Emerald Group Publishing Limited; 2009.
[9] Niemann S, Deublein M, Eberling P, Geiser M. Massnahmenevaluation Verkehrsinfrastuktur MEVASI. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. Forschung 2.392. DOI:10.13100/BFU.2.392.01.2023.
[10] Bundesamt für Strassen ASTRA. Eine besondere Markierung für mehr Verkehrssicherheit; 2023. https://blog.astra.admin.ch/besondere-markierung-mehr-verkehrssicherheit/?utm_source=chatgpt.com. 14.04.2025.
[11] Kuratorium für Verkehrssicherheit. Sondermarkierungen Motorradverkehr: Evaluierung. Wien; 2021. KFV - SICHER LEBEN, BAND 30.
[12] Deutscher Verkehrssicherheitsrat e. V. DVR. Neue Farbmarkierungen für mehr Motorradsicherheit: Zugriff: 14.04.2025: DVR.