Vortrittsmissachtung als Risikofaktor bei Verkehrsunfällen von Erwachsenen

Vortrittsmissachtung ist die häufigste Hauptursache für schwere Verkehrsunfälle in der Schweiz. Die 25- bis 64-Jährigen sind unter den Hauptverursachenden dieser Unfälle überproportional vertreten.

Ausgangslage

Vortrittsmissachtungen sind die häufigste polizeilich registrierte Hauptursache bei schweren Verkehrsunfällen in der Schweiz. Sie werden mehrheitlich von Lenkerinnen und Lenkern von Personenwagen (PW) verursacht, aber vor allem Zweiradfahrende sowie Fussgängerinnen und Fussgänger werden dabei schwer oder tödlich verletzt.

Vortrittsmissachtungen können in verschiedenen Verkehrssituationen passieren, z. B. beim Queren einer Strasse, auf Fussgängerstreifen oder beim Linksabbiegen an einer Kreuzung. Manchmal handelt es sich um Situationen, in denen die Vortrittsregelung signalisiert ist (z. B. «Kein Vortritt»), manchmal ist sie nicht signalisiert (z. B. Rechtsvortritt).

Die genauen Gründe für Vortrittsmissachtungen sind aus der Verkehrsunfallstatistik nicht direkt ersichtlich. Studien deuten darauf hin, dass die fehlbaren Motorfahrzeuglenkenden die Zweiradfahrenden sowie die Fussgängerinnen und Fussgänger häufig übersehen oder zu spät wahrnehmen [1–5].

Teilweise wird auch die Geschwindigkeit insbesondere von E-Bike-Fahrenden unterschätzt [2]. Es wird auch vermutet, dass Fahrzeuglenkende teilweise bewusst den Vortritt missachten, insbesondere gegenüber Personen, die am Fussgängerstreifen warten [5].

Die häufigen Wahrnehmungsfehler können wiederum auf Mängel in der Infrastruktur (z. B. ungenügende Sichtweiten an Knoten oder inadäquate Führung des Veloverkehrs) oder auf eine zu hohe Komplexität der Verkehrssituation zurückzuführen sein.

Menschliche Leistungsgrenzen, Fehleinschätzungen und ungünstige Verhaltensweisen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. So übersehen z. B. Autofahrende Velo- und Motorradfahrende, weil diese aufgrund ihrer schmalen Silhouette generell eher unauffällig sind. Manchmal wenden sie aber auch falsche Blickstrategien an, rechnen zu wenig mit Velos oder Motorrädern oder sind in der spezifischen Situation visuell oder kognitiv überfordert [2–5].

Verbreitung

Für die Schweiz liegen keine umfassenden Analysen zur Häufigkeit von Vortrittsmissachtungen vor. Einige Angaben dazu finden sich in der jährlichen, repräsentativen Bevölkerungsbefragung der BFU [6,7]. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Angaben nur auf bewusst begangene oder zumindest im Nachhinein wahrgenommene Vortrittsmissachtungen beziehen.

Im Jahr 2023 gab die Hälfte der Autofahrenden an, zumindest gelegentlich einer am Fussgängerstreifen wartenden Person nicht den Vortritt zu gewähren. Der entsprechende Anteil ist bei den 18- bis 24-Jährigen (53 %) und den 25- bis 64-Jährigen (51 %) höher als bei den älteren PW-Lenkenden (41 %). Nur sehr wenige geben an, dieses Verhalten häufig zu zeigen (jeweils 2 % in diesen Altersgruppen) [7].

Rund ein Drittel der Velo- und E-Bike-Fahrenden gibt an, ab und ohne Vortritt zu fahren. Dieses Verhalten ist bei den 25- bis 64-Jährigen (36 %) und jüngeren (34 %) weiter verbreitet als bei den über 65-Jährigen (20 %) [7].

Die Angaben beruhen auf Selbstauskünften der Befragten. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass einige Befragte die Häufigkeit ihres problematischen Verhaltens etwas untertrieben haben (sog. sozial erwünschtes Antwortverhalten). Da die Befragung online durchgeführt wurde, dürfte dieser Effekt jedoch nicht sehr gross sein.

Objektive Daten werden durch Beobachtungsstudien oder sogenannte «Naturalistic Driving Studies» (NDS, siehe Hinweis 1) gewonnen. Im Rahmen einer NDS in den USA wurden über einen Zeitraum von drei Jahren die Fahrdaten von rund 3500 Fahrerinnen und Fahrern im Alter von 16 bis 98 Jahren in der Nähe von sechs Städten erfasst [8].

Neben anderen Verhaltensweisen wurden auch verschiedene Arten von Vorfahrtsmissachtungen erfasst. Das Fehlverhalten «Missachten der Vortrittssignale ‹Stopp› oder ‹Kein Vortritt› » kam in etwa 1 % aller Fahrten vor. Andere Verhaltensweisen, die als «Vortrittsfehler» klassifiziert wurden, kamen hingegen nur in 0,07 % der gesamten Fahrten vor [8].

Gefährlichkeit

Wie häufig Vortrittsmissachtungen zu Unfällen führen, lässt sich aufgrund der schlechten Datenlage nur schwer abschätzen; aufgrund der hohen Unfallrelevanz ist aber davon auszugehen, dass sie nicht selten sind.

In der bereits erwähnten NDS aus den USA wurde das Unfallrisiko in verschiedenen Situationen, in denen der Vortritt missachtet wurde, im Vergleich zu einer vorbildlichen Fahrweise abgeschätzt. Beispielsweise wurde für den relativ häufigen Fahrfehler «Missachten der Vortrittssignale ‹Stopp› oder ‹Kein Vortritt› » eine Gefährlichkeit mit einer Odds Ratio (s. Hinweis 2) von 7,4 ermittelt. Das bedeutet, dass das Unfallrisiko bei Missachtung dieser Vortrittssignale im Vergleich zu vorbildlichem Fahrverhalten um mehr als den Faktor 7 erhöht ist.

Für weitere Verhaltensweisen, die als «Vortrittsfehler» klassifiziert, aber nur sehr selten beobachtet wurden, ergab die Studie eine extrem hohe Odds Ratio von 936. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Gefährlichkeit von Vortrittsmissachtungen sehr hoch sein kann.

Unfallrelevanz

Insgesamt unterscheidet sich das Unfallgeschehen der Vortrittsmissachtungen bei den 25- bis 64-Jährigen nur geringfügig von dem aller Altersgruppen zusammen.

Vortrittsmissachtungen sind die häufigste Hauptursache für schwere Verkehrsunfälle in der Schweiz: In den Jahren 2019 bis 2023 waren 22 % der schweren Personenschäden darauf zurückzuführen. Bei den 25- bis 64-Jährigen waren es 21 %. Bei Kollisionen zwischen einem Fahrzeug und einer zu Fuss gehenden Person sowie zwischen mindestens zwei Fahrzeugen war Vortrittsmissachtung sowohl insgesamt als auch innerhalb der Altersgruppe der 25- bis 64-Jährigen in 41 % der Fälle die Hauptursache.

Hauptverursacherinnen und Hauptverursacher schwerer Unfälle durch Vortrittsmissachtung sind in mehr als zwei Dritteln der Fälle die PW-Lenkenden. Am häufigsten sind jedoch Motorradfahrende (28 %), Fussgängerinnen und Fussgänger (24 %) sowie Velofahrende (23 %) betroffen. Bei den 25- bis 64-Jährigen liegen die entsprechenden Anteile bei 31 %, 18 % und 27 %.

Unter den Personen, die von der Polizei als Hauptverursachende schwerer Unfälle durch Vorfahrtsmissachtung eingestuft werden, sind die 25- bis 64-Jährigen überproportional vertreten. Sie machen 61 % der Hauptverursacherinnen und Hauptverursacher solcher Unfälle aus, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei 56 % liegt.

Hinweise

  1. Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. Diese Studien gelten als objektiv und daher wird ihnen die höchste Aussagekraft zugeschrieben. In den NDS wird u. a. das Fahrverhalten über einen gewissen Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. Es kann somit abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen unter «normalen» Bedingungen (ohne Unfall) auftreten (in Prozent der Fahrzeit). Die Verhaltensweisen werden sehr detailliert erfasst.
  2. Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [9]. 

Quellen

[1] Räsänen M, Summala H. Attention and expectation problems in bicycle–car collisions: An in-depth study. Accid Anal Prev. 1998; 30(5): 657–666. DOI:10.1016/S0001-4575(98)00007-4.

[2] Uhr A. Verkehrssicherheit von Velos und E-Bikes im Kreisel. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2022. Forschung 2.463. DOI:10.13100/BFU.2.463.01.2022.

[3] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fahrradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2012. Sicherheitsdossier Nr. 08.

[4] Walter E, Cavegn M, Ewert U et al. Motorradverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2014. Sicherheitsdossier Nr. 12.

[5] Walter E, Achermann Stürmer Y, Scaramuzza G et al. Fussverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2013. Sicherheitsdossier Nr. 11.

[6] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2022: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2022.

[7] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.

[8] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.

[9] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.

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