Motorradunfälle: Ablenkung und Unaufmerksamkeit der Kollisionsgegner

Wenn andere Verkehrsteilnehmende abgelenkt oder unaufmerksam unterwegs sind, erhöht das das Unfallrisiko von Motorradfahrenden. Schwere Motorradunfälle passieren deswegen jedoch vergleichsweise selten.

Ausgangslage

Schwere Motorradunfälle werden immer seltener [1]. Doch wenn etwas passiert, dann sind die Folgen oft schwerwiegend. Denn wer mit dem Motorrad im Strassenverkehr unterwegs ist, ist nur wenig geschützt.  

Schwere Motorradunfälle durch Unaufmerksamkeit und Ablenkung der Kollisionsgegner werden am häufigsten von Lenkerinnen und Lenkern von Personenwagen (67%) und von schweren Motorfahrzeugen wie Lieferwagen, Lastwagen oder Sattelschleppern verursacht (zusammen 12 %, Ø 2019–2023). Deutlich seltener sind Lenkende von Motorrädern (8 %) oder Velos (1 %) die Kollisionsgegner. E-Bike- und E-Trottinett-Fahrende sowie Fussgängerinnen und Fussgänger gehörten in diesem Zeitraum nie zu den fehlbaren Kollisionsgegnern von Motorradfahrenden. 

Unaufmerksamkeit umfasst die innere bzw. selbst erzeugte Ablenkung, z. B. durch abschweifende Gedanken oder Tagträume. In den polizeilich registrierten Unfällen werden Unaufmerksamkeit und Ablenkung als unterschiedliche Unfallursachen erfasst. Wissenschaftliche Untersuchungen konzentrieren sich häufig nur auf die Ablenkung.

Es gibt verschiedene Arten von Ablenkung:

  • Visuelle Ablenkung, z. B., wenn die Lenkerin oder der Lenker die Augen auf ein Mobiltelefon richtet statt auf die Strasse
  • Auditive Ablenkung, z. B. durch das Hören von Musik oder anderen Medien
  • Motorische Ablenkung, z. B., wenn die Lenkerin oder der Lenker das Steuerrad loslässt, um nach etwas zu greifen
  • Kognitive Ablenkung, z. B. durch ein Gespräch mit einem Mitfahrer

Ablenkungen können sich im Fahrzeuginneren oder in der Umgebung befinden, z. B. Werbung am Strassenrand.

Aufgrund der wesentlich häufigeren und deutlich schwereren Kollisionen zwischen Motorradfahrerinnen und Motorradfahrern und Personenwagen beziehen sich die folgenden Ausführungen auf PW-Lenkende als Kollisionsgegner. 

Verbreitung

Fast jede und jeder Dritte lässt sich am Steuer ablenken – am häufigsten durch andere Personen im Fahrzeug. Je jünger die Autolenkenden sind, desto häufiger ist das Handy der Grund für die Ablenkung. Dies zeigt eine BFU-Erhebung aus dem Jahr 2022 [2]. Während die Handynutzungsquote bei den 45- bis 59-Jährigen bei rund 4 % liegt, ist sie bei den 18- bis 29-Jährigen mit 11 % fast dreimal so hoch. Die BFU-Erhebung zeigt auch, dass Männer etwas häufiger abgelenkt am Steuer sitzen als Frauen.

In der «E-Survey of Road User’s Attitudes» (ESRA) 2023 [3] gaben 27 % der Befragten in der Schweiz an, in den letzten 30 Tagen mindestens einmal während der Fahrt eine Nachricht gelesen oder Social Media oder News überprüft zu haben. Die Hälfte der Befragten hat mindestens einmal mit einer Freisprechanlage telefoniert, 23 % mit dem Handy in der Hand. Im Gegensatz zur BFU-Erhebung, die auf beobachtetem Verhalten beruht, handelt es sich bei ESRA um subjektive Einschätzungen der Fahrzeuglenkenden.

In der BFU-Bevölkerungsbefragung 2023 [4] gaben 23 % der Befragten an, zumindest selten während der Fahrt mit dem Handy in der Hand zu telefonieren. Mit der Freisprechanlage telefonieren 73 % der Befragten zumindest ab und zu, 24 % tun dies nie.

Gefährlichkeit

Unaufmerksamkeit und Ablenkung können dazu führen, dass die für eine sichere Verkehrsteilnahme erforderlichen visuellen, auditiven, kognitiven und motorischen Ressourcen nicht in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Sie können daher die Verkehrssicherheit beeinträchtigen [5]. Die Forschung hat sich bisher vor allem auf die Ablenkung konzentriert. Dies liegt daran, dass Unaufmerksamkeit nicht beobachtbar ist und daher nicht zuverlässig erfasst werden kann.   

Wie häufig Unaufmerksamkeit und Ablenkung anderer Verkehrsteilnehmender tatsächlich zu (schweren) Motorradunfällen führen, kann mangels entsprechender Studien nicht beantwortet werden. Bekannt ist jedoch, dass verschiedene Formen der Ablenkung (z. B. Lesen oder Schreiben von Nachrichten) das Unfallrisiko von PW-Lenkenden teilweise um das 8-Fache erhöhen (siehe Hinweis 1) [5,6] (vgl. hier ((LINK Personenwagen Risikofaktor Unaufmerksamkeit und Ablenkung Zielgruppe))). Das Gefahrenpotenzial dieser Ablenkungsarten bezieht sich auf das allgemeine Unfallrisiko und nicht auf das spezifische Risiko von Motorradunfällen.

Von allen in der Unfallstatistik erfassten Motorradfahrerinnen und Motorradfahrern, die aufgrund von Unaufmerksamkeit und Ablenkung anderer Verkehrsteilnehmender verunfallten, wurden 18 % schwer oder tödlich verletzt (und 82 % leicht verletzt).

Unfallrelevanz

Die Unfallrelevanz von Unaufmerksamkeit und Ablenkung anderer Verkehrsteilnehmender als Hauptunfallursache bei schweren Motorradunfällen ist vergleichsweise gering: Nur knapp 3 % aller schweren Personenschäden von Motorradfahrenden sind darauf zurückzuführen (Ø 2019–2023).

Dabei handelt es sich überwiegend um die unspezifische Kategorie «momentane Unaufmerksamkeit» (75 %). Die spezifischen Kategorien bzw. Ablenkungsquellen Telefon, Mitfahrende und technische Geräte werden dagegen eher selten registriert (zusammen 3 %). Zählt man Unaufmerksamkeit und Ablenkung als Mitursache seitens der Kollisionsgegner dazu, steigt der Anteil schwerer Personenschäden bei Motorradfahrerinnen und Motorradfahrern auf 9 %.

Hinweise

  1. In der Polizeistatistik wird die Bedeutung der (Mit-)Ursache Ablenkung tendenziell unterschätzt. Es ist davon auszugehen, dass eine (Mit-)Verursachung eines Unfalls durch Ablenkung (z. B. durch ein Mobiltelefon) nur ungern zugegeben wird. Demgegenüber wird die (Mit-)Ursache Unaufmerksamkeit tendenziell überschätzt, da Unaufmerksamkeit einerseits nicht direkt beobachtbar ist, andererseits aber im Rahmen der polizeilichen Unfallaufnahme häufig als «post-hoc-Erklärung» bei fehlenden offensichtlichen Unfallursachen herangezogen wird. Die Bedeutung der Aufmerksamkeit für sicheres Fahren ist also offensichtlich, entzieht sich aber der wissenschaftlichen Unfallforschung. 

Quellen

[1] Hertach P, Achermann Stürmer Y, Allenbach R et al. Sinus 2023: Sicherheitsniveau und Unfallgeschehen im Strassenverkehr 2022. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.501.01.2023.

[2] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Autolenkerinnen und Autolenker. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.517.01.2023.

[3] Vias Institute. Switzerland – ESRA3 Country Fact Sheet. ESRA3 survey (E-Survey of Road Users’ Attitudes). Version 2 (01/2024): Vias Institute; 2023.

[4] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle [Unveröffentlichter Bericht]. Bern: BFU; 2023.

[5] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.

[6] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.

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