Ausgangslage
Verkehrsunfälle werden häufig durch Ablenkung und Unaufmerksamkeit verursacht. Ablenkung wird durch äussere Reize wie z. B. Handynutzung, Musikhören oder Gespräche mit anderen Personen ausgelöst und führt zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit weg von der Fahraufgabe. Unaufmerksamkeit umfasst dagegen die innere, selbst erzeugte Ablenkung, wie zum Beispiel abschweifende Gedanken oder Tagträume.
Die verschiedenen Formen der Ablenkung tragen zu einem erhöhten Unfallrisiko bei. Ablenkung und Unaufmerksamkeit stellen für alle Altersgruppen ein relevantes Sicherheitsrisiko dar, wobei sich die Verhaltensmuster je nach Alter unterscheiden. Jüngere Verkehrsteilnehmende nutzen elektronische Geräte wie z. B. das Handy deutlich häufiger als ältere, sowohl beim Führen eines Fahrzeugs als auch zu Fuss.
Verbreitung
Daten zur Verbreitung von Ablenkung und Unaufmerksamkeit liegen nur für einzelne Ablenkungsarten vor. Es gibt keine Daten darüber, wie häufig Verkehrsteilnehmende im Strassenverkehr abgelenkt oder unaufmerksam sind. Dies ist generell schwierig abzuschätzen, da es weder beobachtbar noch zuverlässig erfassbar ist.
Gemäss drei Beobachtungsstudien der BFU waren im Jahr 2023 in der Schweiz 26 % der Personenwagen- und Lieferwagenlenkenden, 18 % der Velo- und E-Bike-Fahrenden während der Fahrt und 50 % der Fussgängerinnen und Fussgänger beim Überqueren der Strasse abgelenkt [1–3].
In allen drei Gruppen wird die Ablenkung hauptsächlich durch die Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmerinnen oder Fahrzeuginsassen verursacht (zwischen 8 % und 28 %). In allen Gruppen nimmt der Anteil der abgelenkten Personen mit zunehmendem Alter deutlich ab.
Der Alterseffekt spiegelt sich auch in der Bevölkerungsbefragung der BFU wider: So gaben im Jahr 2022 rund 72 % der befragten 18- bis 24-jährigen PW-Lenkenden an, während der Fahrt zumindest ab und zu ein Navigationsgerät zu bedienen. Zum Vergleich: Bei den 25- bis 64-Jährigen sind es 64 % und bei den 65- bis 74-Jährigen 39 % [4].
Ein weiteres Beispiel ist das Musikhören bei Velo- und E-Bike-Fahrenden: Im Jahr 2023 gaben 74 % der 18- bis 24-Jährigen an, zumindest ab und zu während der Fahrt Musik zu hören. Bei den 25- bis 64-Jährigen waren es 28 % und bei den 65- bis 74-Jährigen 8 % [5].
Auch bei den Fussgängerinnen und Fussgängern zeigt sich ein deutlicher Alterseffekt, insbesondere beim Schreiben oder Lesen auf dem Mobiltelefon während des Gehens. Im Jahr 2022 lagen die Anteile bei den 18- bis 24-Jährigen bei 94 %, bei den 25- bis 64-Jährigen bei 76 % und bei den 65- bis 74-Jährigen bei 32 % [4].
Gefährlichkeit
Unaufmerksamkeit und Ablenkung können dazu führen, dass die für eine sichere Teilnahme am Strassenverkehr erforderlichen visuellen, auditiven, kognitiven und motorischen Ressourcen nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Dies wirkt sich negativ auf die Verkehrssicherheit aus [6]. Die Forschung hat sich bisher vor allem mit der Ablenkung beschäftigt. Dies liegt daran, dass Unaufmerksamkeit nicht zuverlässig erfasst werden kann.
Eine in den USA durchgeführte «Naturalistic Driving Study» (NDS, siehe Hinweis 1), an der rund 3500 Lenkerinnen und Lenker von Personenwagen (PW) im Alter von 16 bis 98 Jahren teilnahmen, zeigt: abgelenktes Fahren generell erhöht das Unfallrisiko um etwa das Doppelte [7].
Unter den ablenkenden Tätigkeiten stellen diejenigen, bei denen die lenkende Person den Blick von der Fahrbahn abwenden muss, das höchste Risiko dar, z. B. das Wählen einer Nummer auf einem Mobiltelefon (Odds Ratio 12,2, s. Hinweis 2). Die Interaktion mit Passagieren ist mit einem deutlich geringeren Risiko verbunden (Odds Ratio 1,4) [6,7].
Ablenkung erhöht das Unfallrisiko insbesondere bei Lenkenden unter 30 Jahren (Odds Ratio für 16- bis 20-Jährige: 2,1; OR für 21- bis 29-Jährige: 2,8; OR für 30- bis 64-Jährige: 1,6 und OR für 65- bis 98-Jährige: 1,7) [8].
Unfallrelevanz
In den Jahren 2019 bis 2023 waren gemäss Unfallstatistik bei fast der Hälfte (46 %) der im Strassenverkehr schwer verletzten oder getöteten 18- bis 24-Jährigen Ablenkung und Unaufmerksamkeit die Haupt- oder Mitursache – deutlich mehr als der entsprechende Anteil über alle Altersgruppen hinweg (30 %) [9].
Betrachtet man Ablenkung und Unaufmerksamkeit jedoch nur als Hauptursache, so beträgt dieser Anteil an den schweren Unfällen bei jungen Erwachsenen 16 %. In zwei Dritteln der schweren Unfälle von jungen Erwachsenen wegen Ablenkung und Unaufmerksamkeit werden also andere Faktoren wie z. B. Vortrittsmissachtung oder Alkoholkonsum von der Polizei als Hauptursache registriert.
Gemessen an ihrem Anteil an allen schweren Unfällen (11 %) sind 18- bis 24-Jährige überdurchschnittlich häufig von schweren Ablenkungs- und Unaufmerksamkeitsunfällen betroffen (16 %). Unter den Hauptverursacherinnen und Hauptverursachern schwerer Ablenkungs- und Unaufmerksamkeitsunfällen ist ihr Anteil mit 20 % besonders hoch.
Die Unfallstatistik für die Jahre 2019 bis 2023 zeigt zudem, dass der Anteil der 18- bis 24-Jährigen bei schweren Ablenkungs- und Unaufmerksamkeitsunfällen mit Motorrädern besonders hoch ist (26 %). Gleiches gilt für solche Unfälle mit Personenwagen (25 %). Zum Vergleich: Der Anteil der 18- bis 24-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt nur 7 %.
Hinweise
- Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen bzw. Ablenkungsverhalten werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. Diese Studien gelten als objektiv, weshalb ihnen die höchste Aussagekraft zugeschrieben wird. Bei NDS wird unter anderem das Fahrverhalten über einen bestimmten Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. So kann abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen unter «normalen» Bedingungen (ohne Unfall) auftreten (in Prozent der Fahrzeit). Die Verhaltensweisen werden sehr detailliert erfasst.
- Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [6].
Quellen
[1] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Autolenkerinnen und Autolenker. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.517.01.2023.
[2] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Velo- und E-Bike-Fahrende. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.518.01.2023.
[3] Niemann S, Hertach P. Erhebungen 2023: Ablenkung im Strassenverkehr: Fussgängerinnen und Fussgänger. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2023. DOI:10.13100/bfu.2.516.01.2023.
[4] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2022: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2022.
[5] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.
[6] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.
[7] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[8] Guo F, Klauer SG, Fang Y et al. The effects of age on crash risk associated with driver distraction. Int J Epidemiol. 2017; 46(1): 258–265. DOI:10.1093/ije/dyw234.
[9] Hertach P, Uhr A, Achermann Stürmer Y et al. Sinus 2024: Sicherheitsniveau und Unfallgeschehen im Strassenverkehr 2023. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2024. DOI:10.13100/bfu.2.536.01.2024.