Ausgangslage
Nicht angepasste Geschwindigkeit, Fahren unter Einfluss von Alkohol oder Drogen, Ablenkung oder Vortrittsmissachtung: Diese Regelmissachtungen zählen zu den häufigsten Unfallursachen und führen zu vielen schweren Unfällen. Deshalb werden sie in diesem Portal als separate Themenseiten behandelt.
Im Strassenverkehr werden noch viele weitere Verstösse begangen, z. B. Rotlichtmissachtungen, zu geringer Sicherheitsabstand oder das Fahren auf dem Trottoir. Auch wenn diese Verstösse insgesamt seltener sind und zu weniger schweren Unfällen führen, machen sie zusammen einen erheblichen Anteil am Gesamtunfallgeschehen aus. Im Folgenden liegt der Fokus auf diesen Verstössen.
Unter den Begriffen «Regelmissachtungen» und «Regelverstösse» werden Verhaltensweisen verstanden, die gegen Vorschriften des Strassenverkehrsrechts verstossen. Dabei handelt es sich sowohl um bewusste als auch unbewusste Missachtungen von festgelegten Regeln oder Vorschriften. Das Führen eines Fahrzeugs kann je nach Verkehrs- und Witterungsverhältnissen eine komplexe Aufgabe sein, die ein hohes Mass an Aufmerksamkeit erfordert. Unter schwierigen Bedingungen können Lenkende überfordert sein und vermehrt unbewusste Regelmissachtungen begehen, wie z. B. das Übersehen einer Signalisation.
Regelverstösse werden je nach Verkehrsteilnehmergruppe aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Häufigkeit begangen. Velofahrerinnen oder Fussgänger zum Beispiel ignorieren die Regeln häufiger aus Bequemlichkeit oder um Zeit zu sparen, manchmal aber auch, weil sie sich durch den motorisierten Verkehr gefährdet fühlen oder weil sie die Infrastruktur als unangenehm oder ungeeignet empfinden. Häufig hat das regelwidrige Verhalten keine negativen Konsequenzen, sodass es verstärkt gezeigt wird [1].
Verbreitung
In der Schweiz gibt es nur wenige aktuelle Daten zur Häufigkeit von Regelmissachtungen, abgesehen von nicht angepasster Geschwindigkeit, Fahren unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, Ablenkung und Vortrittsmissachtung.
In der jährlichen, repräsentativen Bevölkerungsbefragung der BFU werden verschiedene Gruppen von Verkehrsteilnehmenden gefragt, wie häufig sie bestimmte regelwidrige und/oder der Sicherheit abträgliche Verhaltensweisen zeigen [2,3].
Drei Viertel der Fussgänger und Fussgängerinnen geben an, dass es zumindest ab und zu vorkommt, dass sie die Strasse überqueren, ohne den Fussgängerstreifen in unmittelbarer Nähe zu nutzen. Bei den meisten von ihnen ist dies nur selten bzw. gelegentlich der Fall, einige (9 %) tun dies hingegen oft. Drei Fünftel berichteten, zumindest ab und zu bei Rot die Strasse zu überqueren: 38 % machen dies selten, 17 % gelegentlich und 6 % oft [2].
Bei den Velo- und E-Bike-Fahrenden gab ein Drittel der Befragten an, zumindest ab und zu verbotenerweise bei Rot rechts abzubiegen und knapp ein Viertel berichtete, zumindest ab und zu bei Dunkelheit ohne Licht zu fahren [3].
Bei den Autofahrenden gaben drei Fünftel an, dass sie zumindest ab und zu zum vorausfahrenden Auto sehr nah aufschliessen [3]. Diese Angaben beruhen auf Selbstauskünften der Befragten. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass einige Befragte die Häufigkeit ihres problematischen Verhaltens etwas untertrieben haben (sog. sozial erwünschtes Antwortverhalten). Da die Befragung online durchgeführt wurde, dürfte dieser Effekt jedoch nicht sehr gross sein.
Objektive Daten werden durch Beobachtungsstudien oder sogenannte «Naturalistic Driving Studies» (NDS, siehe Hinweis 1) gewonnen. Unseres Wissens wurden jedoch in der Schweiz bislang keine derartigen Studien in Bezug auf die Missachtung der betreffenden Verkehrsregeln durchgeführt. Entsprechende Studien wurden aber im Ausland realisiert. Im Rahmen einer NDS konnte festgestellt werden, dass die teilnehmenden Velo- und E-Bike-Fahrenden in Chemnitz während des vierwöchigen Beobachtungszeitraums bei mehr als 20 % aller Rotlicht-Situationen einen Verstoss begingen. Besonders häufig war dies beim Rechtsabbiegen der Fall: In diesen Situationen wurde das Rotlicht gar häufiger missachtet als beachtet [4]. Im Rahmen einer NDS in den USA, bei der über einen Zeitraum von drei Jahren Fahrdaten von etwa 3500 Autofahrenden im Alter von 16 bis 98 Jahren in der Nähe von sechs Städten erhoben wurden, wurden u. a. folgende Verstösse besonders häufig beobachtet (die Zahlen in Klammern geben den prozentualen Anteil der jeweiligen Regelmissachtung an der Gesamtzahl der gefahrenen Stunden an): [5]
- Keine Zeichengabe (2,3 %)
- Missachtung von Stopp- und Vortrittssignalen (1,0 %)
- Unvorsichtiges Wenden des Fahrzeugs (0,6 %)
- Missachten eines Signals (0,2 %)
- Fahren in verbotener Richtung (0,2 %)
Gefährlichkeit
Regelmissachtungen stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. In der bereits erwähnten NDS aus den USA wurde das Unfallrisiko bei verschiedenen Regelverstössen im Vergleich zu einer vorbildlichen Fahrweise geschätzt [5]. Beispielsweise wurde für die weit verbreitete Verhaltensweise «Keine Zeichengabe» eine Gefährlichkeit mit einer Odds Ratio (siehe Hinweis 2) von 2,5 ermittelt. Das bedeutet, dass das Unfallrisiko bei Nichtbeachtung dieser Regel im Vergleich zu einem vorbildlichen Fahrverhalten um das 2,5-Fache erhöht ist. Für folgende Regelverstösse wurden besonders hohe Unfallrisiken (Odds Ratio, Erwartungswert inkl. 95%-Konfidenzintervall in Klammern) ermittelt:
- Plötzliches oder unangemessenes Bremsen/Abbremsen: 247,8 (53,1–1156,2)
- Unvorsichtiges Wenden des Fahrzeugs: 92,1 (68,8–123,4)
- Missachten eines Signals: 28,3 (15,9–50,2)
- Fahren in verbotener Richtung: 22,3 (12,0–41,5)
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Gefährlichkeit bei Regelmissachtungen sehr hoch sein kann.
Unfallrelevanz
Aufgrund der weiten Verbreitung und der teilweise hohen Gefährlichkeit von Regelmissachtungen ist die Relevanz dieser Verhaltensweisen für das Unfallgeschehen erheblich. Laut Unfallprotokollen sind im Durchschnitt der Jahre 2019–2023 in der Schweiz 948 der 4111 schweren Personenschäden (23 %) auf die Missachtung von Verkehrsregeln zurückzuführen, die nicht im Zusammenhang mit Geschwindigkeit, Fahren unter dem Einfluss psychoaktiver Substanzen, Ablenkung oder Vortrittsmissachtung stehen (s. Grafik unten).
Bei fast der Hälfte dieser Verstösse geht es um «Fehlverhalten bei Fahrbewegungen» wie z. B. «zu nahes Aufschliessen» oder «vorschriftswidriges Begegnen».

Schwere Personenschäden nach ausgewählten Regelmissachtungen als Hauptursache, im Druchschnitt der Jahre 2019-2023.
Hinweise
- Zur Ermittlung der Verbreitung von Regelverstössen werden idealerweise Beobachtungsstudien oder «Naturalistic Driving Studies» (NDS) herangezogen. Diese Studien gelten als objektiv und daher wird ihnen die höchste Aussagekraft zugeschrieben. In den NDS wird u. a. das Fahrverhalten über einen gewissen Zeitraum mit verschiedenen On-Board-Kameras aufgezeichnet. Es kann somit abgeschätzt werden, wie häufig verschiedene Verhaltensweisen unter «normalen» Bedingungen (ohne Unfall) auftreten (in % der Fahrzeit). Die Verhaltensweisen werden sehr detailliert erfasst.
- Die Odds Ratio (OR) gibt an, um wie viel sich die Chance (Englisch: odds) für das Eintreten eines Ereignisses durch einen Einflussfaktor verändert. Zur Berechnung werden in einem ersten Schritt die Odds für ein Ereignis bei Vorhandensein des Einflussfaktors und die Odds für ein Ereignis bei Nichtvorhandensein des Einflussfaktors berechnet. «Odds» sind definiert als das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass es nicht eintritt. Diese beiden Odds werden dann zueinander ins Verhältnis gesetzt (Odds Ratio). Wie das Relative Risiko kann auch die Odds Ratio einen Wert zwischen 0 und unendlich annehmen. Auch hier weist eine OR > 1 auf einen positiven Zusammenhang hin [6].
Quellen
[1] Uhr A. Regelmissachtungen im Veloverkehr. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2021. Forschung 2.396. DOI:10.13100/BFU.2.396.01.2021.
[2] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2022: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2022.
[3] BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung. BFU-Bevölkerungsbefragung 2023: Jährlich wiederkehrende Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung zu Themen im Bereich der Nichtberufsunfälle. Bern: BFU; 2023.
[4] Schleinitz K, Petzoldt T, Kröling S et al. (E-)Cyclists running the red light – The influence of bicycle type and infrastructure characteristics on red light violations. Accid Anal Prev. 2019; 122: 99–107. DOI:10.1016/j.aap.2018.10.002.
[5] Dingus TA, Guo F, Lee S et al. Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data. Proc Natl Acad Sci U S A. 2016; 113(10): 2636–2641. DOI:10.1073/pnas.1513271113.
[6] Hertach P, Uhr A, Niemann S et al. Beeinträchtigte Fahrfähigkeit von Motorfahrzeuglenkenden. Bern: BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung; 2020. Sicherheitsdossier 2.361. DOI:10.13100/BFU.2.361.01.